Georgia Augusta 1916

Weihnachtsgabe 1916 der Georgia Augusta
(Überarbeitete Fassung des Artikels aus der Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 96 (Neue Folge), Oktober 2006, Nr. 2, S. 27–30)

Am Morgen des 158. Stiftungsfestes gingen Hans-Ernst Ladebeck und ich über den Göttinger Wochenmarkt und durch die Nikolaistraße, als ich einen Trödler entdeckte, der Studentika im Schaufenster ausgestellt hatte. Schnell war ich im Laden, fragte nach weiteren Stücken und bekam etwas gezeigt. Mein Confuchs übte sich freundlich in Geduld; bald war der Kauf perfekt, und ich hatte die Weihnachtsgabe der Universität Göttingen für ihre Angehörigen im Felde aus dem Jahr 1916 erworben.

Es handelt sich um ein Buch im Querformat (Kleinoktav); es enthält 48 Seiten, ist im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht erschienen und wird mit einer Kordel zusammengehalten in der Art eines Stammbuches aus der Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der genaue Titel lautet:

Alt-Göttinger Stammbuch

Die Georgia Augusta
ihren Angehörigen im Felde

Weihnachten 1916

Auf dem Einband vorn und hinten sowie über der Einleitung sind Federzeichnungen des Kunsthistorikers der Universität Göttingen abgedruckt, und zwar der Marktplatz, das Bismarckhäuschen am Wall sowie das Auditorium maximum.

Die Einleitung verfasste der Rektor des WS 1916/17, Professor Dr. jur. Robert von Hippel. Er betonte die unzertrennliche Zusammengehörigkeit des Lehrkörpers in der Heimat und der Universitätsangehörigen im Felde. Im Ernst und Kampf der Gegenwart sehne sich der Sinn auch des Tapfersten wohl einmal nach innerer Ruhe und nach Heimatbildern aus friedvollen Tagen. Deshalb enthalte diese Weihnachts- gabe reizvolle Kupferstiche aus vergangener Zeit. Damals hätten die Studenten von ihren Lehrern Stammbuchsprüche erbeten. Solche würden jetzt im zweiten Teil die Lehrer mit ihrer (gedruckten) Unterschrift versehen den im Feld stehenden Soldaten zusenden. Zum Christfest übermittelte der Rektor gute Wünsche und rief ihnen zu: „Dem Mutigen hilft Gott!“ Dieser wolle allen eine glückliche Heimkehr geben. Zum Jahreswechsel grüßte Magnifizenz von Hippel mit den Worten: „Deutscher Idealismus und deutsches Pflichtgefühl, deutscher Mannesmut und deutsche Treue werden uns auch ferner zum Erfolg und zu einem ehrenvollen Frieden führen.“

Auf den folgenden 15 Seiten ist jeweils ein Kupferstich von Göttingen und Umgebung (die Ruine der Burg Hardenberg ist ebenfalls abgebildet) zu sehen. Solche Kupferstiche hatte Anfang des 19. Jahrhunderts der Verlag Wiederhold in Göttingen als Stammbuchblätter herausgebracht. Sodann haben 57 Professoren bzw. Dozenten – in alphabetischer Reihenfolge – ein Gedicht, ein geflügeltes Wort usw. ausgesucht und unterschrieben. Der Text wurde auf ein Blatt gedruckt, welches als Umrandung eine Ranke aufweist. Bei sieben Angehörigen des Lehrkörpers steht unter dem Namenszug der Hinweis: „z. Zt. im Felde.“ Weit über die Hälfte der Hochschullehrer zitierte Dichter und Denker (auf Goethe und Schiller wurde jeweils viermal zurückgegriffen), aber einige schrieben auch eigene Aussprüche oder Verse.

Anzumerken ist noch, dass im SS 1914 über 100 Professoren und Dozenten an der Universität Göttingen tätig waren. Somit ist anzunehmen, dass in der Weihnachtsgabe 1916 nur etwa die Hälfte der akademischen Lehrer zu Wort gekommen ist – vielleicht diejenigen, die in der Weihnachtsgabe 1915 nicht vertreten waren. Selbst wenn man gebührend berücksichtigt, dass im Dezember 1916 der Krieg beinahe schon zweieinhalb Jahre dauerte und dass die Deutschen allgemein der Überzeugung waren, den Kriegsausbruch hätten ausschließlich Frankreich, Russland und England zu verantworten, ist für mein Empfinden kaum nachzuvollziehen, was einige Professoren in dem Stammbuch zu Papier gebracht haben. Insofern ist die Weihnachtsgabe nicht nur ein zeitgeschichtlich höchstinteressantes Dokument, sondern beweist auch, dass einige Hochschullehrer gelegentlich unerträglichen Unsinn verzapfen.

Dr. M. Reich entdeckte etwas Nützliches am Krieg, indem er schrieb: „Je höher die Anforderungen, umso größer die Leistungen; dies gilt insbesondere auch von der Technik, die jetzt in wenigen Monaten Aufgaben bewältigt, zu deren Lösung sonst Jahre nötig gewesen wären.“ – Die Kriegswirtschaft lief 1916 sicher auf Hochtouren, jedoch ergibt sich aus der Feststellung von Herrn Reich zugleich im Umkehrschluss, dass die Deutschen in Friedenszeiten offensichtlich unfähig oder zu faul waren, insbesondere auf technischem Gebiet etwas schnell auf die Beine zu stellen.

Mit ähnlicher Tendenz formulierte der Chirurg Professor Dr. R. Stich (z. Zt. im Felde.) Folgendes: „An den Erfolgen der deutschen Wissenschaft in diesem schweren Völkerringen hat auch die Heilkunde ihren Anteil. Der deutsche Arzt kann stolz darauf sein, dem Werk der Zerstörung, so riesengroß es ist, ein Werk der Wiederherstellung entgegenstellen zu können, das keiner unserer Feinde auch nur annähernd erreicht.“ – Wer als Feldscher viele Verwundete zusammenflicken musste – egal, ob Freund oder Feind -, wird sicher im Laufe der Zeit dazugelernt haben.

Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Esser zitierte Marschall Blücher: „Möchte die Feder nicht verderben, was das Schwert errungen.“ – Angesichts des Frontverlaufs konnte man Ende 1916 solche Hoffnungen vielleicht noch haben.

Der Physiologe Professor Dr. Jensen schrieb den letzten Teil der dritten Strophe von Eichendorffs Studentenlied „Nach Süden nun sich lenken“ einfach um: Beatus non est homo, qui sedet in sua domo et sedet post formacem et cupit bonam pacem.“ – Die kursiv geduckten Wörter sind die Änderungen.

Geheimrat Professor Dr. Lorenz Morsbach, Mitglied der wissenschaftlichen Prüfungskommission für das Lehramt an höheren Schulen, teilte folgende Erkenntnis mit: „England hat die geschlossenere Weltanschauung und den stärkeren Willen, Deutschland die höheren Ideale und den größeren Intellekt. Die Zukunft muss lehren, was im Kampf der Völker am schwersten wiegt.“ – Knapp zwei Jahre später lag das Ergebnis vor!

Der Neujahrswunsch von Geheimrat Professor Dr. Stimming lautete: „Möchte  der größte zur Zeit lebende Deutsche an der Spitze der Heeresleitung, der soeben mit eindrucksvoller Mahnung auch der heimischen Landbevölkerung ins Gewissen greift, unser teures Vaterland einer ruhmreichen Zukunft entgegenführen!“ – Solche Wünsche wurden wohl nur noch nach 1933 übertroffen!

Professor Dr. Hermann Th. Simon schmiedete ein Gedicht mit vier Strophen, von denen aber nur die erste und die letzte wiedergegeben werden:

„Der liebe Gott ward müd und schlief. Da haben über Nacht
Wohl alle bösen Geister sich über uns gemacht.
Wir sollten uns nicht regen mehr und rühren auf der Erde,
Sie gönnten uns das Feuer nicht, das Feuer auf unsrem Herde.

Herrgott! Wach auf und schlage doch endlich einmal drein!
Du schliefst nun schon ins dritte lange Jahr hinein. 
Schick uns in seinem alten Glanz den Weihnachtsstern zur Erde
Und führ uns unsere Jungen heim zum Feuer auf unsrem Herde.“

Leider ließ sich nicht feststellen, welcher Fakultät der Dichter angehörte, nur eines ist sicher: er war kein Theologe.

Der Geheime Oberkonsistorialrat Professor D. Dr. Kühl zitierte I. Korinther 16, 3: „Wachet, stehet im Glauben, seid männlich und seid stark.“ – Dieser Appell passte prima für Soldaten, obwohl dem Ordinarius für das Neue Testament doch klar gewesen sein musste, dass der Apostel Paulus aus den Korinthern keine tapferen Krieger machen wollte.

Es gab natürlich auch völlig andere Stammbuchweisheiten.

Professor Dr. Werner Rosenthal verkürzte ein Zitat und schrieb: „Nichts Menschliches uns fremd.“ – Da gab es für die Musensöhne an der Front bestimmt viel zu interpretieren.

Unser Alter Herr Geheimer Justizrat Professor Dr. Ferdinand Frensdorff entnahm aus Schillers Gedicht „An die Freude“ die Worte: „Dem Verdienste seine Kronen, Untergang der Lügenbrut!“

Ob einer der Professoren etwas weiter dachte, ist ungewiss, aber der Geheime Regierungsrat Professor Dr. W. Fleischmann, Direktor des landwirtschaftlichen Laboratoriums für Chemie und Bakteriologie der Milch, zitierte Claudius: „Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, wir müssen uns nach ihr richten.“

Auf der letzten Seite des Buches steht ein Zitat von Bismarck, das die Vertretung der Göttinger Studentenschaft des WS 1916/17 ausgesucht hatte: „Nur von uns, von unsrer Einigkeit, von unsrer Vaterlandsliebe hängt es in diesem Augenblicke ab, dem gesamten Deutschland die Bürgschaften einer Zukunft zu sichern, in welcher es nach eigner Selbstbestimmung seine verfassungsmäßige Entwicklung und seine Wohlfahrt pflegen und in dem Rate der Völker den friedliebenden Beruf zu erfüllen vermag.“ Es folgten sieben Unterschriften; eine Studentin ist auszumachen – Margarete von Schelika. Vier Studenten setzten einen Zirkel hinter ihren Namen. Ein Student gehörte aller Wahrscheinlichkeit der Landsmannschaft Verdensia an, ein anderer dem Verein Deutscher Studenten. Der Dritte war Mitglied der Akademischen Verbindung Palatia im CV. Der vierte Korporierte ist wohl in einer anderen Universitätsstadt aktiv geworden, denn sein Zirkel deutet nicht auf einen Bund in Göttingen hin.

Henning Tegtmeyer (WS 1961/62)