Rede Wiedergründung 1951

Rede unseres Bundesbruders Dr. rer. pol. Wilhelm Körner (1898-1971)
Träger des Ehrenbandes der Burschenschaft Hannovera
zur Wiedergründungsfeier am 17. Februar 1951


Liebe Bundesbrüder!

Im Jahre 1933 waren wir zum letzten Mal zur Feier unseres 85. Stiftungsfestes in Göttingen zusammen. Damals ahnten wir nicht, was vor uns lag und wußten nichts von der Not, die uns bevorstand. Aber über die Zeit hinweg, die wir durchlebt haben, hat uns das grün-weiß-rote Band begleitet und die Bande, die wir in unserer Jugend geknüpft haben, sind nicht zerrissen. Das beweist die große Zahl derjenigen, die heute hier zusammengekommen sind, um nicht nur den alten Lebensbund zu erneuern, sondern einen neuen Bund zu begründen, der an das Gute unserer alten Tradition anknüpft.

Bei diesem ersten Zusammensein gedenke ich aller Bundesbrüder, die ihre Teilnahme am heutigen Abend aus den verschiedensten, jedem von uns verständlichen Gründen nicht ermöglichen konnten. Ich gedenke besonders derer, die durch den eisernen Vorhang von uns getrennt sind. Ich bin überzeugt, daß die Gedanken aller derjenigen, die einmal das grün-weiß-rote Band trugen, heute abend bei uns sind. Nicht zuletzt gedenke ich derjenigen, die in den vergangenen fast 20 Jahren heimgegangen sind oder in dem zweiten Weltkrieg ihr Leben hingaben, damit wir leben können. Am morgigen Volkstrauertag werden wir ihnen noch ein besonderes Gedächtnis widmen.

Die Zeit, die nach dem Zusammenbruch unseres Vaterlandes vergangen ist, bis wir uns heute abend zur Neugründung unserer Hannovera zusammengefunden haben, mag manchem sehr lang erscheinen. Die Kritik, die an der Haltung der hannoverschen Bundesbrüder geübt wird, mag eine gewisse Berechtigung haben. Und doch war es wohl nötig und richtig, mit Ruhe und Besonnenheit und erst zu einem Zeitpunkt an das Wiedererstehen unseres Bundes heranzugehen, an dem sich eine gewisse Ordnung und Freiheit an unseren Universitäten und Hochschulen abzeichnete. Es ist ja auch noch nicht allzu lange her, daß die Besatzungsmacht die Verantwortung für die Neuzulassung von studentischen Korporationen ganz in deutsche Hände zurückgelegt hat.

Die Frage der Gründung von studentischen Vereinigungen zur Neugestaltung unseres studentischen Lebens wird wohl von niemandem, der die Aufgaben unserer Hochschulen kennt und ernst nimmt, verneint. Sie sind ja nicht allein Einrichtungen für Forschung und Lehre, sondern sie sollen doch im besonderen der Erziehung des jungen Studenten dienen. Vielleicht ist diese Aufgabe wichtiger als jede andere und jeder Forscher und Lehrer an ihnen sollte sich darüber klar sein, daß er einmal durch den Geist der Strenge, der Objektivität und der Wahrhaftigkeit der Wissenschaft, die er vorträgt, andererseits durch das Vorbild seiner Persönlichkeit, ein Erzieher seiner Hörer und Schüler sein sollte. Aber das genügt nicht! Ohne die Selbsterziehung der Studenten bildet sich nicht der akademische Nachwuchs, den wir in unserer heutigen völlig durcheinander geratenen Gesellschaftsordnung brauchen. Diese ist aber nur in kleinen Gemeinschaften möglich, in denen zunächst im Freundeskreise eine Abstimmung der Lebensgrundsätze und der praktischen Lebensregeln der Mitglieder aufeinander erfolgt und damit die Grundlage für ein späteres erfolgreiches Leben und Wirken in der großen menschlichen Gemeinschaft gewonnen wird. Und so sind aus dem Wunsch nach Kameradschaft oder aus der Pflege gemeinsamer kultureller oder religiöser Ideen oder aus der Freude am Sport inzwischen vielerlei Vereinigungen entstanden, in denen mit heißem Bemühen, in einer zusammengebrochenen Gesellschaftsordnung und in einer seelisch, geistig und materiell zerstörten Welt etwas Neues zu schaffen, sehr ernsthaft gearbeitet wird. Aber da gibt es sehr große Schwierigkeiten; es fehlt an Häusern und geeigneten Räumen als einer Voraussetzung für ein wahres Gemeinschaftsleben; es fehlt auch an einem nun einmal notwendigen materiellen Rückhalt aus der älteren Generation. Und so waren auch wir stets zurückhaltend und vorsichtig. Und wenn auch für uns diese Voraussetzungen noch nicht erfüllt sind, so wollen wir aber nun mit der Neugründung unseres Lebensbundes nicht länger warten, nachdem sich einige junge Studenten in Freundschaft zusammengefunden haben, um die Keimzelle für ein neues Bundesleben zu werden. Und da sie sich zu burschenschaftlichem Gedankengut bekennen, wollen wir sie auf unseren Lebensbaum pfropfen und hoffen, daß der alte Stamm wieder neue Zweige treibt, die vielfältig Blätter und reichlich Früchte tragen. Dabei werden wir uns aber darüber klar sein müssen, daß die Blätter und Blüten dieses Baumes nicht die gleichen sein werden wie bisher, denn seine Lebensgrundlagen und Lebensbedingungen sind andere geworden. Wie jeder Baum, der verpflanzt oder aufgepfropft wird, sich in Wachstum und Früchten ändert, so wird auch das neue Bundesleben, das hier in Göttingen erwachsen und geführt werden soll, ein gegenüber früher verändertes Gesicht tragen.-

Mit Stolz sind wir Hannoveraner ein Glied der großen deutschen Burschenschaft gewesen und über sie hinaus hat unsere alte Hannovera Namen und Klang gehabt und Achtung und Ehre genossen. Wir Träger des grün-weiß-roten Bandes sind Hüter einer guten Tradition. Wir haben sie öffentlich weit in das 3. Reich hineingetragen und in unseren Herzen auch durch den grausamen Zusammenbruch hindurchgerettet. Wir wahren sie bis in den Tod! Wir wahren sie aber nur richtig und unseren Ahnen gegenüber würdig, wenn wir sie aus der Zeit, in der sie erwuchs, herausheben und aus ihren zeitbedingten äußeren Lebensformen loslösen.
Das bürgerliche Zeitalter des halben 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist vorüber. 2 Weltkriege und ihre Folgen sind der Ausdruck für eine tiefe Wandlung im gesamten menschlichen Leben. Jetzt stehen wir an der Schwelle eines neuen Zeitalters, das zu formen und zu bestimmen vielleicht noch in unserer Hand liegt; unsere Jugend aber soll die Aufgaben dieses Zeitalters erfüllen und darauf vorbereitet sein. Damit übernehmen wir Älteren eine neue Verantwortung, die nach dem eigenen Erleben der letzten Jahrzehnte mit allen ihren Folgen eine ganz besonders schwere ist. Laßt wie deshalb die Tradition, die wir unserem jungen Bunde mitgeben wollen, ernsthaft überprüfen, ob sie der Gegenwart und Zukunft etwas zu sagen hat und stark genug ist, mit in diese neue Zeit übernommen zu werden!

Wenn ich sie weit über den äußeren Ablauf der Jahrzehnte herausheben darf, komme ich zu der Überzeugung, daß so unendlich viel Gutes, Wahres und Schönes in ihr vorhanden ist, daß wir uns nicht nur mit Stolz auf sie besinnen dürfen, sondern daß wir an sie anknüpfen müssen! Nach wie vor gilt der alte burschenschaftliche Wahlspruch:

„Gott, Ehre, Freiheit, Vaterland“

und je tiefer wir seinen Sinn erfassen und in die Zeit, die wir zu durchleben und zu durchkämpfen haben, hineinstellen, umso stärker werden wir werden, wenn es gilt, an dem Neubau unseres Zeitalters mitzuarbeiten!-

Gott! Niemand kommt darum herum, sich mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Zu fern sind schon wieder die grauenvollen Bombennächte und das Brausen der Granaten, zu fern sind schon wieder die Zeiten der Not und der Angst, die uns ganz still doch die Hände zum Gebet falten und die Gedanken auf Ihn richten ließen. Zu wenig ist die Frömmigkeit in unseren Gemütern, zu sehr fehlt es uns an dem heldenmütigen Gottvertrauen, das einst gesungen „Ein Feste Burg ist unser Gott“. Von keinem Volk der Erde ist einstmals dieses Lied so voller Vertrauen gesungen worden wie dem deutschen:-
„Und wenn die Welt voll Teufel wär, der Weg geht mitten durch“ ruft Karl Hase im Jahre 1820 den Jünglingen der freien Hochschulen Deutschlands zu. Wir sollten den Ruf aufgreifen und in unser Volk weitergeben! Wir sollten täglich aus ihm unsere Kraft schöpfen zur Überwindung aller Not und Schwere unserer Zeit.-

Ehre! In dem edlen Stolz des gesunden Ehrgefühls, in welchem der Mensch sich selbst persönlich jedem Anderen gleich achtet und sich demgemäß sein Recht verwahrt, lebt eine Tugendpflicht. Diese geht ganz aus dem Gebot der Gerechtigkeit hervor; daraus können wir uns sachlich und fachlich über oder unterordnen – aber rein persönlich wollen wir uns jedem Anderen gleich ordnen. Daraus ergibt sich nur eine Ehrenhaftigkeit, die nicht nach Klassen und Ständen unterscheidet. Was wir vom Akademiker verlangen können und müssen, ist daß er die Pflicht hat und ernst nimmt, die Ehre des anderen zu achten und die eigene zu wahren. Nicht zuletzt über einen falsch verstandenen Ehrbegriff und Ehrenstandpunkt in den letzten Jahrzehnten ist ein Kastengeist entstanden, der in die Gemeinschaft unseres Volkes eine verderbliche Kluft riß. Niemals darf das wiederkehren!
Wir sind alle Glieder eines Volkes. In ihm sollte der Akademiker stolz auf den Arbeiter und der Arbeiter stolz auf den Akademiker sein. Und welches Volk hätte mehr Veranlassung dazu als das deutsche! Welches Volk hätte mit seinen Akademikern und seinen Arbeitern nach 2 verlorenen Weltkriegen mit dem völligen Zusammenbruch alles geistigen und wirtschaftlichen Lebens die Leistungen vollbracht, die das deutsche in den letzten 5 Jahren gezeigt hat.- Die richtige Lösung der sozialen Frage unserer Zeit wird die fundamentale Grundlage für unsere Zukunft sein. Gerade unsere akademische Jugend findet hier eine unumgängliche Betätigung von entscheidender Bedeutung. Die Weltkriege brachten eine bisher in der Welt noch nicht erlebte Umschichtung unseres Volkes und nur mit größter Behutsamkeit und unter Mitwirkung aller Kräfte unseres Volkes kann eine neue Gesellschaftsordnung für eine zukunftsfrohe deutsche Volksgemeinschaft geschaffen werden. Laßt uns nie vergessen, daß sich das Wort des Burschenschafters Walter Flex, daß der ärmste Sohn des deutschen Volkes sein getreuester war, durchaus bewahrheitet hat! Ihm sollte daher unsere besondere Fürsorge gelten!
Streit und Hader als eine notwendige Folge der Unvollkommenheit der Menschen sind unvermeidlich. Laßt sie uns unter Beachtung von Menschlichkeit und Menschenwürde und Menschenrecht ausgleichen. Möchte gerade die akademische Jugend sich bemühen, den Begriff der Volksehre, an dem sie in höchstem Maße teilhaben sollte, zu entwickeln und damit den Begriff der Ehre zum Durchbruch zu verhelfen, den die Urburschenschaft in den Wartburgversammlungen des Jahres 1817 prägte. Dann ist es unerheblich, ob die Verteidigung der persönlichen Ehre unbedingt mit der Waffe erfolgen muß. Und die Frage dar Bestimmungsmensur ist Frage des Sports. Sie hat uns viel bedeutet. Ob ihr erzieherischer Wert immer der beabsichtigte war, erscheint mir zweifelhaft. Aber die wahrhafte deutsche Ehre zu festigen und zu fördern, ist alte gute burschenschaftliche Überlieferung!

Freiheit! Die höchste wahre Freiheit kann in nichts anderem bestehen wie in der Unterordnung aller unter ein selbstgegebenes und anerkanntes Gesetz. In die lebendige Wirklichkeit tritt die Freiheit aber erst dann vollkommen, wenn jeder in der Gemeinschaft das Gesetz derselben in allen Stücken zu seinem eigenen macht. Allein Zügellosigkeit und Ungebundenheit ist keine Freiheit; Entziehung von aller Obrigkeit ist keine Freiheit. Das sind Auswüchse einer unfreien alten Zeit. Diese Worte eines Burschenschafters aus denn Jahre 1820 könnten heute gesprochen sein. Diese innere Freiheit, das Freiwerden von der Selbstzucht und allem Unedlen, der freie Blick des Geistes sollte unter den Mitgliedern der Burschenschaft geweckt und ausgebildet werden. Ist diese Forderung nicht auch heute noch berechtigt? Mag unser akademisches Leben einen großen Teil dieser Freiheit nach all den Jahren der Diktatur und Abgeschlossenheit von der Welt zurückerobert haben, das politische Leben unserer Zeit atmet diesen Geist der Freiheit noch nicht. Wie nötig und richtig ist es, daß die akademische Jugend den Geist der Freiheit entwickelt, den unsere Zeit verlangt und den unsere Tradition in sich trägt!-

Vaterland! Zerschlagen und aufgeteilt liegt das unsere am Boden. Nach 2 Weltkriegen mit übermenschlichen Anstrengungen unseres Volks ist es von der politischen Bühne der Welt verbannt. Und dennoch werden wir das Vaterland nicht aufgeben und nicht aufhören, es zu lieben und noch heißer zu lieben als zuvor! Unser herzlichster Wunsch aber ist doch der, es bald wieder frei und in allen seinen Teilen vereint zu sehen! Wenn wir aus der Entwicklung der Zeit heraus uns auch wohl mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß wirtschaftlich und vielleicht auch politisch unser Vaterland Deutschland nur europäisch und weltpolitisch gesehen werden kann, wenn wir uns sicherlich davor hüten müssen, das Wiedererstarken unseres Vaterlandes allein an die Wiedergewinnung militärischer Macht gebunden zu sehen, die uns vielleicht noch einmal erlauben könnte, die Welt zu erobern, so behalten wir doch unsere Heimaterde und lassen uns von niemanden in der Welt streitig machen, sie und mit ihr unser Volk zu lieben und uns in dieser Liebe von keinem Volk der Erde übertreffen zu lassen!-

Nachdem wir aus der Reihe der militärischen Großmächte ausgeschieden sind, geblieben sind wir eine geistige Großmacht! Und es wird alles darauf ankommen, diese Stellung zu behalten und auszubauen. Und so könnte unser armes Deutschland eine historische Rolle ganz einziger Art spielen, daß es an seinem Beispiel die Welt durch den Geist und die seelische Haltung reformiert, insbesondere wenn es uns gelingt, die sozialen und politischen Probleme des neu angebrochenen Zeitalters zu meistern!-
Und wenn nun der Vaterlandsbegriff unserer Tradition durch die Entwicklung eines Jahrhunderts ein anderer geworden ist, so bleibt von ihm doch der unerschütterliche Glaube an Volk und Heimat, in die wir unabdingbar verwurzelt sind und von denen uns nichts trennen kann wie der Tod. Volk und Heimat auch mit der Waffe zu verteidigen, übernehmen wir auch heute noch als Pflicht aus unserer Tradition.-

Und über unseren Grün-weiß-roten Farben steht als Wahlspruch „Freiheit durch Einigkeit“. Über die Thesen der deutschen Burschenschaft hinaus wollen wir uns durch besondere bundesbrüderliche treue Gemeinschaft zueinander finden und zusammen halten. Der akademische Bund ist nicht mit dem Verlassen der Universität beendet, sondern er ist ein Lebensbund, den nur der Tod trennt. In unlösbarer Einigkeit wird der Weg durchs Leben gegangen und werden die in der Jugend beschworenen Ideale der Wegweiser durch das Leben. Wie schwer gerade uns Deutschen diese Einigkeit fällt, hat unsere Geschichte uns gelehrt. Nicht nur unter uns diese Einigkeit zu pflegen, sondern für sie sich im Leben, an welcher Stelle man auch immer stehe, einzusetzen, wird und soll die Tradition unserer Hannovera bleiben.

8 Kommilitonen unserer alten Georgia Augusta haben sich unter den ausgesprochenen Gedanken zusammengefunden und wollen unter den grün-weiß-roten Farben mit uns Alten Herren die Hannovera wieder begründen. Wir wollen ihnen in der Gestaltung der äußeren Formen ihres Bundeslebens alle Freiheiten lassen. Sie sollen es entwickeln, wie es der heutigen Zeit und ihren Erfordernissen entspricht. Wir wollen ihnen mit Rat und Tat in allen Fragen beistehen und uns der Verantwortung an der Entwicklung des jungen Bundes bewußt sein. Aber als junge und alte Bundesbrüder wollen wir uns zusammenfinden und unzertrennlich in der Zukunft zusammenleben unter dem Wahlspruch:

Ehre, Freiheit, Vaterland
Freiheit durch Einigkeit

(Es folgen die Bandverleihungen und die Übergabe der Fahne an die Aktiven.)

Unsere Hannovera ist nun wiedererstanden. Unser aller heißer Wunsch ist, daß aus ihr ein Bau geformt wird, der allen Stürmen der Zeit trotzt, der uns alle in ihm neu zusammenfaßt und zusammenhält und aus dem Männer in das Leben unseres Volkes treten, die es aus dem schier hoffnungslosen Dunkel der Nacht in eine lichtvolle große Zukunft führen.

Dazu gebe uns Fichte das Geleit!

Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben,
An Deines Volkes Auferstehn,
Laß Dir den Glauben nur nicht rauben,
Trotz allem, allem, was geschehn.
Und handeln sollst Du so, als hinge
von Dir und Deinem Tun allein
die Zukunft ab der deutschen Dinge
Und die Verantwortung wär Dein.








(ks 01/2020)