Das 50. Stiftungsfest. Bericht 1898

Liebe Bundesbrüder!
Einer während der Festtage in Göttingen an uns ergangenen Aufforderung folgend erfüllen wir die angenehme Pflicht, Euch einen Bericht über unser so schön verlaufenes 50. Stiftungsfest zu unterbreiten: zur freundlichen Erinnerung für die, welche ihm beigewohnt haben, zur wohlwollenden Durchsicht für die, welche in Gedanken bei uns gewesen sind, und zur erneuten Bitte um Wiederannäherung an die Hannovera für die, welche nichts von sich haben hören lassen.
Denn bei aller Begeisterung, welche das Herannahen der Jubeltage in den Herzen der meisten alten Grünen entfachte, ist es um so schmerzlicher aufgefallen; dass etwa 30 Alte Herren — das ist etwa ein Fünftel des derzeitigen Philisteriums — trotz der anderthalbjährigen intensiven Anstrengungen des Festausschusses sich allen Bitten gegenüber ablehnend verhalten, ja zum Teil gar kein Lebenszeichen von sich gegeben und die vielen Zuschriften unbeantwortet gelassen haben.
Bei den älteren Alten Herren mag dazu wohl die Verschiedenheit der Ansichten über die Hannovera jetzt und früher beigetragen haben, wenngleich zu wünschen wäre, dass diese Herren den geschichtlichen Verhältnissen Rechnung trügen und die Hannovera unterstützten in ihrem Bestreben, als angesehene, ehrenwerte Verbindung ihren neuen Idealen zu leben, welche von den alten nur in unbedeutenden Dingen und Aeusserlichkeiten abweichen. Im höchsten Grade beklagenswert ist es aber, wenn selbst Leute, welche schon der „Burschenschaft“ Hannovera angehört haben, und zwar bis in die siebziger Jahre hinein ihr die alte Treue so schlecht bewahrt haben, oder zum mindesten keinen Ausdruck dafür gefunden haben.
Doch mögen das nur die nötigen Schattenseiten sein in dem grossen Lichtbilde der Liebe und Treue, die einzigen Missklänge in dem vollen harmonischen Akkord der Anhänglichkeit an das grün-weiss-rote Band, welche unserem Fest einen so weihevollen Stempel aufdrückte.
Zwar musste mancher, welcher sich die Teilnahme am Feste sicher vorgenommen hatte, noch in letzter Stunde abschreiben; wohl hatte eine Reihe der alten Freunde schon vorher wegen Amtsgeschäften oder Gesundheitsrücksichten ihr Fernbleiben in Aussicht stellen müssen; aber als die Festestage erschienen waren, reichte sich doch eine stattliche Anzahl Alter Grüner auf ihrer alten Hochschule die Hand, um alte Freundschaft zu bekräftigen und neue zu schliessen.
Wir lassen zunächst die Liste der alten und jungen Grünen nebst ihren Damen folgen, welche miteinander den 50. Geburtstag der gemeinsamen Mutter feierten, Es waren anwesend von Alten Herren:
1) Wendland, 2) Detmering, 3) zur Nedden, 4) Heussenstamm, 5) Kirchner, 6) Dellevie, 7) Frensdorff, 8) Schmidt (Schwerin), 9) v. Otto, 10) Rösing , 11) Neumüller, 12) Berndt mit Gattin und Frau Hanneborg, 13) Wagner (Odessa) mit Tochter, 14) Hayen mit Gattin, 15) Raspe, 16) v. Ammon, 17) Kielhorn mit Gattin und Tochter, 18) Mitscherlich mit Gattin, 19) Wehrmann, 20) Struckmann (Hildesheim), 21) Roggemann (Delmenhorst) mit Tochter, 22) Vorster, 23) Rose, 24) Friesland, 25) Richter, 26) Schaer, 27) Crameer mit Gattin, 28) Nanne, 29) Bänder, 30) Vogeler, 31) Wagner (St. Petersburg) mit Gattin, 32) Friedländer mit Gattin, 33) v. Jhering, 34) Haussknecht I, 35) Lindner, 36) Oertel, 37) Herting, 38) Schaumann mit Gattin, 39) Goslar, 40) Haussknecht II, 41) Ruperti, 42) Arensberg, 43) Römpler, 44) Riekes, 45) Meyer (Hannover), 46) Waldvogel, 47) Rhumbler mit Gattin, 48) Haver.
Hieran schliessen wir die Liste der Inaktiven und Aktiven:
1) Glässner, 2) Grünewald, 3) Wiese, 4) Plass I mit Bruder (Spefuchs), 5) Limper, 6) Nieschlag, 7) Wolff mit Vater, Mutter und Schwester, 8) Helwing, 9) Nacke, 10) Hans, 11) Meyer, 12) Heine, 13) Poos, 14) Plass II, 15) Rump, 16) Kneese, 17) Hoffmann, 18) Trautwein, 19) Schäfer, 20) Brauns, 21) Marquardt, 22) Mitscherlich, 23) Geiger mit Mutter, einer Schwester und drei Kusinen, 24) Löwenberg.
Unsere Kartellburschenschaft Franconia-Bonn war durch 12 Mann nebst ihrem Bundesdiener vertreten; ferner konnten wir je 2 Abgesandte der uns von Alters her befreundeten Burschenschaften Germania-Jena und Franconia-Heidelberg begrüssen. Ausserdem nahmen an unserem Feste teil Vertreter der Cimbria und Saravia aus Berlin, Franconia-Freiburg, Germania-Halle, Alemannia-Marburg, Cimbria-München, sowie am Festkommers je zwei Mitglieder der Alemannia und Brunsviga zu Göttingen. —
An dieser Stelle sei gleichzeitig der Zuwendungen gedacht, welche die Kneipe als Festgaben erhielt: Die Franconia-Bonn stiftete ein grosses, reich mit Silber beschlagenes Trinkhorn, während die Germania-Jena eine schmucke Wanduhr mit dem geschnitzten Wappen der Hannovera darbrachte. — Endlich waren noch geladen und erschienen der langjährige Paukarzt. Dr. Meinheit und Berndts Sohn (Heidelberger Allemanne).
Ein Blick auf die Reihe der erschienenen Alten Grünen lässt erkennen, dass am zahlreichsten das Wintersemester 1858/59 vertreten war: es hatte ebensoviel Teilnehmer entsandt als das ganze folgende sechste Jahrzehnt.


Nun zum Verlauf unseres Festes selbst!
Als ein glücklicher Griff muss es betrachtet werden, dass das Fest im Juli und nicht im Mai begangen wurde; denn während im Mai die Feier zweifelsohne unter den ungünstigen Witterungsverhältnissen sehr zu leiden gehabt hätte, liess uns nunmehr der Himmel den sonnigsten Sonnenschein kosten; es herrschte ein Wetter, wie es unser Festlied so schön besingt:

„In ihrem Sonntagskleide
Erglüht verjüngt die Welt,
Sie lacht vor Lust und Freude,
Vom Sonnenstrahl erhellt“.

Und Sonnenstrahlen der Freude und des Glückes lachten auch aus den Augen sämtlicher Festteilnehmer.
Bereits im Laufe des Montags, des 18. Juli, während noch geschäftige Hände bemüht waren, den Eingang und den grossen Saal der Union mit Pflanzen, Guirlanden, Wappen und Fahnen der Hannovera und der Franconia-Bonn würdig für das Fest zu schmücken, traf eine Anzahl besonders festeifriger Alter Herren ein. Durch die alten bekannten Strassen, auf denen in reicher Fülle die grün-weiss-roten Fahnen wehten, wandelten sie und frischten die Erinnerung auf an die Zeit, da sie selbst als frische Burschen hier gelebt und gelacht hatten. Gegen Abend fand man sich auf der Veranda der Union zusammen und beschloss den Tag im Gartenkonzert im Stadtpark. Am andern Morgen sah man eine trunkfeste Schaar schon wieder in der Union bei einem kleinen Frühschoppen versammelt; meist freilich ältere Semester, denn das junge Volk hatte nunmehr eifrig zu thun, die jetzt in noch grösserer Zahl als gestern auf dem Bahnhof eintreffenden Alten Herren und Gäste zu empfangen und in ihre Unterkunft zu geleiten.
Als dann am Abend die achte Stunde geschlagen hatte, strömte die Masse der Festteilnehmer von allen Seiten herbei in den schön geschmückten Festsaal der Union, und bald war die grosse hufeisenförmige Kneiptafel gefüllt mit fröhlichen Zechern, die sich alle eins wussten in der Liebe zum grün-weiss-roten Bande. Manch einer, welcher den Jugendfreund seit vielen Jahren nicht mehr hatte begrüssen können, freute sich des Wiedersehens und tauschte bewegt Erinnerungen aus; andere wieder, welche sich im Leben noch nie gesehen hatten, schauten sich hier zum ersten Male ins Auge und reichten sich zum Druck die Hand.
Dem Charakter des Begrüssungsabends gemäss war die Stimmung an diesem Abend vorwiegend eine gemütliche, anheimelnde; ausser einigen kurzen Begrüssungsworten seitens des geschäftsführenden Ausschusses wurden offizielle Reden nicht gehalten. Statt dessen flossen beim Gläserklang und beim Sange froher Lieder die Stunden dahin — zu schnell für manchen, welcher etwas zeitiger aufbrach, um zum Festkonvent wieder frisch zu sein.
Dieser begann am Mittwoch, den 20. Juli, um 9 Uhr und war die zahlreichste beratende Versammlung, welche jemals die Hannovera einberufen hat. Es wurde hierbei unter anderen auch die Frage aufgeworfen, wie man den Rest des noch in den Händen der Hanseaten befindlichen Inventars wieder erlangen könne; indessen konnte ein endgültiger Beschluss in dieser Angelegenheit nicht gefasst werden. Den breitesten Raum der Erörterungen nahmen die Finanzverhältnisse der Burschenschaft und die Festigung des Alte-Herren-Verbandes ein. Nach Darlegung der pekuniären Stellung der aktiven Burschenschaft, welche bereits seit ihrem Wiedererstehen 1884 mit einer Unterbilanz zu kämpfen hatte, wurde eine Kommission aus 4 Alten Herren und 3 Aktiven gewählt, um die Rechnungen zu kontrollieren und Vorschläge zu machen, wie einer Wiederkehr derartiger Zustände vorzubeugen sei. Am nächsten Tage sollte dieselbe Bericht erstatten. Als Mitglieder derselben wurden bestimmt: v. Ammon, Vorster, Friedländer, Römpler, Meyer, Hans und Heine. Hinsichtlich der Festigung des Alte-Herren-Verbandes wies Friedländer in nachdrücklichen Worten auf die Alte-Herren-Kasse hin und hatte den erfreulichen Erfolg, dass derselben eine ganze Reihe neuer Mitglieder beitrat.
Nicht vergessen sollen aber in unserem Bericht die flammenden Worte sein, welche A.H. Struckmann, gestützt auf den reichen Schatz seiner Erfahrung und seine Kenntnis des burschenschaftlichen Lebens, den jungen Grünen ins Herz rief. Er warnte sie vor Verflachung und vor der übergrossen Beachtung von Aeusserlichkeiten, er ermahnte sie dagegen, gleich der alten Burschenschaft trotz aller Anfeindungen und Befehdungen treu ihren Idealen nachzuleben und namentlich Treue zum Vaterland und Liebe zum Reich zum Eckpfeiler ihrer Bestrebungen zu machen.
„Es ist von mehreren Vorrednern darüber geklagt worden, dass die Alten Herren der jetzigen Burschenschaft nicht die genügende Teilnahme bewahrt und entgegengebracht hätten. Es mag die Thatsache richtig sein. Der Grund dafür aber liegt nach meinen Beobachtungen zum grossen Teil darin, dass wir Alten Herren in der Burschenschaft nicht immer mehr den Geist erkannt und lebendig gesehen haben, den wir seiner Zeit in der Verbindung fanden, und aus dem sie ihre Kraft sog. Von mir wenigstens muss ich es bekennen, dass, wenn ich die gedruckten Halbjahrsberichte der Burschenschaft gelesen habe und fand, dass dort vorwiegend von Mensuren u. s. w., sehr wenig aber von Leistungen und Bestrebungen auf anderen, namentlich wissenschaftlichen, patriotischen und sonstigen idealen Gebieten die Rede war, mich das einigermassen abgekühlt und nicht sehr begeistert hat. Die Verbindung ist seiner Zeit gegründet, um ihren Mitgliedern eine heitere und fröhliche, durch echte Jugendfreundschaft veredelte Studentenzeit zu schaffen, vor Allem aber, um ihnen Liebe für das Vaterland, für die Wissenschaft und für alles das, was den Menschen zum wahren Menschen macht, einzuflössen und auf diese Weise sie zu tüchtigen, für das Edle begeisterten Menschen und Staatsbürgern heranzuziehen. Diese Ziele schwebten uns damals vor, und diesen Geist suchten und fanden wir damals in der Verbindung. Es hat uns älteren, wie gesagt, manchmal scheinen wollen, als ob dieser Geist nicht mehr die Verbindung beherrsche, sondern als ob ein anderer Geist eingezogen sei, als ob der Hauptwert auf Dinge gelegt werde, in denen allerdings die Corps oder ähnliche Verbindungen ihre Stärke suchen mögen, in denen aber die Burschenschaften niemals ihre Hauptstärke suchen sollten und thatsächlich jenen es auch kaum jemals gleichthun werden. Ihr in der Burschenschaft müsst auf dem Boden Euch erhalten und aus ihm Eure Kraft entnehmen, auf dem Ihr erwachsen seid. Nur dann könnt Ihr wirklich Tüchtiges leisten, nur dann auch dauernd die Teilnahme Eurer Alten Herren Euch sichern. Finden diese in Euch denselben Geist wieder, der sie damals erfüllte und ihnen die Verbindung teuer und lieb machte, so werden sie, davon bin ich überzeugt, auch zu Euch und zur Verbindung treu stehen, und heute und später ihre thatkräftige Teilnahme nicht versagen“.
Unter dem packenden Eindruck dieser Worte wurde der Festkonvent bis zum nächsten Morgen vertagt.
Um 2 Uhr vereinigten wir uns wieder im Festsaale der Union zum Festessen. Die Tafel war im offenen Viereck errichtet; weit über 100 Personen nahmen am Mahle teil. Die älteren Alten Herren und die Damen fanden Platz am oberen Teile der Tafel, während die jüngere Welt sich nach freier Wahl gruppierte. Jeder unnütze Aufwand war vermieden; es wurden 4 Gänge aufgetragen, und man hatte die Wahl zwischen einem Mosel-, einem Rhein- und einem Rotweine, alle zu gleichem Preise. Dass durch diese Einschränkung, die Gemütlichkeit irgend gelitten hätte, hat niemand behauptet. Während des Festmahls, dessen Leitung in den Händen des ältesten anwesenden Alten Herrn, Superintendenten Wendland, lag, erhob sich zunächst der A. H. Struckmann, dessen ergreifende Worte im Festkonvent noch in jeder Brust nachklangen, zu einer Rede.
„Meine verehrten Festfreunde und Freundinnen! Wenn wir heute das 50-jährige Stiftungsfest unserer Hannovera feiern, so wirft sich unwillkürlich die Frage auf, wie es vor 50 Jahren in Deutschland aussah, und wie es jetzt aussieht. Denn auch die Burschenschaft nimmt teil an der Geschichte ihrer Zeit, und in ihrer Geschichte spiegelt die der letzteren sich wieder. In dem Jahre 1848, welches nebst manchem Ueberschäumenden und Verkehrten doch auch vieles Schöne und Edle schuf, traten hier in Göttingen eine Reihe begeisterter Jünglinge, denen die Formen, in denen das bisherige studentische Leben sich bewegte, und insbesondere das Corpsleben, nicht genug bot, zusammen, um, erfüllt von reiner Vaterlandsliebe, von Begeisterung für die Wissenschaft, für alles Edle und Gute, eine Vereinigung zu schaffen, welche das Ziel verfolgte, die herrliche Studentenzeit zu erheben zu einer Zeit jugendlichen Frohsinns und schöner Jugendfreundschaft, zugleich aber die Ausbildung aller edlen im Menschen ruhenden Kräfte in ihren Mitgliedern zu erwecken, echte Vaterlandsliebe, warme Begeisterung für das Studium, lebendigen Sinn für Anstand und Sitte, und somit sie vorzubereiten zu tüchtigen Menschen und Staatsbürgern.
So entstand die Progressverbindung Hannovera, eine schöne und hoffnungsreiche Frucht ihrer Zeit. Nicht eine politische Verbindung sollte sie sein, und das ist sie auch nie gewesen. Aber erwachsen ist sie auf dem Boden der Vaterlandsliebe; dem, wie man hoffte, damals sich gestaltenden deutschen Vaterlande jubelte man entgegen, ihm wollte man dienen; indem man ihm äusserlich und innerlich kräftige und tüchtige Arbeiter auf der Universität heranzubilden sich bestrebte.
Das Jahr 1848 hielt nicht, was es versprochen; die ersehnte Einheit wurde Deutschland nicht zuteil, die politische und geistige Freiheit suchte man von Neuem zu unterdrücken. In diese Zeit der Reaktion fiel das 10-jährige Stiftungsfest unserer Hannovera, an welchem auch ich teilnehmen konnte. Und ich erinnere mich deutlich, wie bei aller Festesfreude es doch wie ein gewisser Mehlfingt auf den Gemütern lag, und wie die sichere Zuversicht, den Traum der Einheit des deutschen Vaterlandes verwirklicht zu sehen, nicht Platz greifen konnte.
Seitdem aber haben wir das Jahr 1866 und das Jahr 1871 erlebt, und Alles, was wir 1848 erhofften und im Jahre 1858 ersehnten, hat sich verwirklicht, hat sich verwirklicht in einer Weise, wie wir damals kaum es zu hoffen wagten. Wir haben heute ein geeintes Vaterland, ein machtvolles deutsches Reich, haben an seiner Spitze einen mächtigen deutschen Kaiser, haben eine der Entwicklung der bürgerlichen Freiheit und der Freiheit des Geistes einen weiten Spielraum bietende Verfassung. Und in diese Zeit der Erfüllung unserer Wünsche fällt das 50-jährige Stiftungsfest unserer Burschenschaft.
Da wirft sich die Frage auf, wie steht denn heute unsere Burschenschaft selbst? Hat denn auch sie während jener ganzen Zeit festgehalten an den Idealen zur Zeit ihrer Entstehung, ist sie auch heute noch erfüllt von demselben edlen Geiste, der im Jahre 1848 ihre begeisterten Stifter erfüllte? Ja, manche schwere Zeiten sind auch über die Hannovera dahingegangen, und an anderer Stelle ist heute schon darauf hingewiesen, wie zeitweise es scheinen konnte, als lebe der alte Geist nicht mehr in ihr. Aber das war Gottlob vorübergehend. Im Jahre 1870 haben ihre Mitglieder, soweit sie dazu in der Lage waren, für das Vaterland gekämpft und ihre Pflicht gethan, wie jeder brave Deutsche. Und, wie wir zu unserer Freude gehört haben , ist auch gegenwärtig die Burschenschaft erfüllt von wahrhaft vaterländischem, von gesundem und kräftigem Sinne.
Ist das der Fall, dann, meine verehrten Festgenossen, darf ich hoffen, dass Sie mir freudig zustimmen werden, wenn ich bei unserm heutigen Festmahle an erster Stelle dessen gedenke, welcher an der Spitze dieses geeinten Vaterlandes steht, und in dem sich daher das Ziel unserer jugendlichen Wünsche verkörpert. Mit Bewunderung sehen wir, wie hoch unser jugendlicher Kaiser sein Ziel gesteckt hat, mit welcher Kraft er es verfolgt, mit welcher Pflichttreue er seines hohen Berufes waltet. Jedem von Euch, meine jugendlichen Freunde, möge er ein leuchtendes Vorbild sein. Möget auch Ihr die auf der Universität Euch gesetzte Aufgabe mit gleichem Eifer erfassen, möge gleiche Begeisterung, alle Eure Kräfte dem Vaterlande, den höchsten Zielen zu weihen, Euch erfüllen, möget Ihr mit gleicher Pflichttreue Euch bestreben, auf der höchsten Bildungsstätte, der Universität, zu echten Menschen, im besten Sinne des Worts, Euch auszubilden. Liefert den Beweis, dass Niemand es dem Burschenschafter zuvorthut an Vaterlandsliebe, an Opfermut, an Sinn für das Höchste in jeder Mannestugend, dann werden auch die bislang über das Wesen der Burschenschaft vielleicht hie und da auch an massgebenden Stellen noch herrschenden Missverständnisse mehr und mehr schwinden und es wird Eurem edlen Streben von keiner Seite die ihm gebührende Anerkennung versagt werden.
Darum, heute wie vor 50 Jahren fest wurzelnd auf dem Boden der Liebe zu unserem teuren deutschen Vaterlande, lassen Sie uns in Verehrung und Treue gedenken seines erhabenen Herrschers. Se. Majestät unser Kaiser und König Wilhelm II. lebe hoch! hoch! hoch!“
Dem begeistert aufgenommenen Hoch schoss sich der Gesang der Kaiserhymne an. Als fernerer Redner erhob sich aus dem Kreise der Aktiven Trautwein, und er, der im Leben noch nie eine Rede geredet hatte, redete nun los und redete eine Rede auf die anwesenden Damen, in deren Lobpreisung die Festversammlung freudig einstimmte. — Nach Schluss des Festessens zogen wir in langem Zuge in den Garten des Photographen Noelle, wo ein gut gelungenes Bild der glänzenden Versammlung aufgenommen wurde. (Wegen etwaigem Bezug des Bildes wolle man sich an Gebr. Noelle in Göttingen wenden; der Preis eines Bildes beträgt koloriert etwa 18, urkoloriert etwa 9 Mark.)
Inzwischen war der Hauptteil des ganzen Festes, der Kommers, herangekommen, welcher von 4 Chargierten der Hannovera und 2 der Franconia-Bonn in vollem Wichs geleitet wurde. Schnell füllten sich wieder die laugen Tafeln im Unionssaal mit bunten Mützen, während diesmal die Damen von der Bühne herab dem frohen Treiben zusahen.
Der Sprecher, Heine, eröffnete den offiziellen Teil und hiess im Namen der Aktiven die Alten Herren, Kartellbrüder, fremden Burschenschafter und die Damen willkommen. Nachdem das hehre Bundeslied Arndts verklungen war, erhob sich im Anschluss an das zweite Lied: „Deutschland über alles“ der A.H. Rhumbler zu folgender Ansprache:
„Treu dem Sinne ihrer Gründer steht die deutsche Burschenschaft auch heute fest zu Kaiser und Reich. Im Einklang mit der durch den Gang der Weltgeschichte bestätigten Erkenntnis; dass einer weitumfassende Monarchie die beste Staatsform darstellt, haben die ersten Burschenschaften zur Einigung der deutschen Kleinstaaten zu einem grossen, mächtigen Bundesstaat hingedrängt. Was sie ersehnt und erstrebt, fiel uns Jüngeren als leichtes Erbe zu — ein einiges Deutschland, ein Kaiser an seiner Spitze. Kraftvoll nach aussen, blühend in Handel und Industrie steht das deutsche Reich in den Friedenstagen Kaiser Wilhelms II. Nur wer in engherziger Ueberkritik am Einzelnen haftet und dadurch den Blick für die Gesamtheit seines Waltens verloren hat, nur dem wird die freudige Erkenntnis dafür getrübt werden , mit welch ausserordentlicher Beharrlichkeit unser Kaiser sein Regierungswerk dem Frieden geweiht hat. Wohl hat ein starkes auf sich selbst ruhendes Mannesbewusstsein, das im Vollgefühl des eigenen Werts und der ruhmreichen Vergangenheit seiner Väter wurzelt, hin und wieder verstimmt und angestossen, als er in jungen Jahren an so hervorragende und verantwortliche Stelle berufen wurde. Bei kraftvollen, zielbewussten Naturen dürfen uns diese Anstösse nicht verstimmen: nur wer sich mit dem Winde zu drehen weiss, wird nirgends anstossen; die Hohenzollern sind aber nie Wetterfahnen gewesen. — Bei den jetzigen deutschen! Burschenschaften drohte eine Missstimmung rege zu werden wegen unbeantwortet gebliebener telegraphischer Grüsse an Seine Majestät. Es wäre eine klägliche Ironie auf die Vaterlands- und Kaiser-treuen Ziele der Burschenschaft, deren sie sich so gern und mit allem Recht rühmt, wenn auch nur ein einziger deutscher Burschenschafter sich durch eine solche Kleinigkeit, deren Ursachen uns nicht einmal bekannt sind, in seiner Treue und Verehrung für den Monarchen wollte beirren lassen. Nein, wir stehen fest zum Reich und zu seinem Kaiser. Unser Zutrauen zu seinem Friedenswollen und zu seinem ernsten Willen, nur das Beste des Ganzen, sein Ansehen und sein Gedeihen im Auge zu haben, wird uns ihm auch dann folgen lassen, wenn in schweren Tagen Glück und Ehre unseres Volkes uns in den Kampf mit anderen Nationen ruft, wird uns folgen lassen mit derselben opferfreudigen Begeisterung, die unsere Brüder 1870 in die Schlacht führte. Doch fern bleibe solche Zeit des Leides! — Möge unser Vaterland weiter blühen, gross und mächtig wie heute, und mit ihm sein Kaiser Wilhelm II. und sein Haus!“
Brausender Beifall und begeistertes Hoch folgte diesen Worten.
Nachdem die Vertreter der fremden Burschenschaften der Hannovera zu ihrem Ehrentage Glückwünsche dargebracht hatten, wurden die zahlreichen Briefe und Telegramme verlesen, welche die Alten Herren gesandt hatten, die zu ihrem Bedauern dem Fest hatten fern bleiben müssen.
Als dann das Farbenlied (Wohlauf die Stimm‘ zum frohen Sang) verklungen war, erreichte der Kommers seinen Gipfel in der nachstehenden Festrede Berndts:
„Meine lieben Freunde! Es giebt wohl kaum ein Menschenleben, es müsste denn ganz zerstückelt und verworren sein, durch das sich nicht ein roter Faden zieht, mag dies der Beruf, die Wissenschaft, Kunst oder Poesie, mag’s die Liebe oder Freundschaft, mag’s Optimismus oder Pessimismus sein. Sehr häufig sind es auch deren mehrere. Bei mir ist einer dieser roten Fäden grün.
Ich habe ein langes Leben hindurch gearbeitet und habe dabei die Bemerkung gemacht, dass sich sehr häufig neben das gewollte Denken ein ungewolltes stellt, eine Art Gedanken-Reflexbewegung entsteht. Ich war mit einer Akten-Relation beschäftigt und der Motivirung eines Prozess-Urteils, und als ich über den Schadenersatz aus der lex Aquilia und aus der Kontraktsschuld nachdachte und über das geheimnisvolle Thema der Korreal-Obligation, in das uns unser alter Titius mit seiner wirbelnden Schnupftabaksdose einzuweihen suchte — es handelte sich um meine Examens-Arbeit , meine verehren Kommilitonen — da drang von fern ein Summen an mein Ohr, es verdichtete sich zu einer Melodie und wollte nimmer aufhören, und zuletzt klang es hell und deutlich: „Juchheirassassa, die Grünen sind da, die Grünen sind lustig, sie rufen Hurrah !“ Ein ander Mal schrieb ich an einem Leitartikel über Herrn von Kardorff, Herrn Dr. Arendt und die Goldwährung, und als ich zu Gunsten der letzteren eine kräftige Lanze brach, da neckte mich unablässig der Vers: „Wie lacht und blitzt so traulich in’s Herz, der Sonne Strahl und schmückt mit! Silberstreifen den weiten Erdensaal“ , und ich gedachte des leuchtenden Sommermorgens, als ich mit dem nun schon lange im Grabe ruhenden kleinen Kitz aus Frankfurt a. M. in der Pause vor dem alten Kollegien-Hause auf und ab ging, und es uns von Minute zu Minute unmöglicher erschien, in die dunklen dumpfigen Kollegien zurückzukehren, auf die poesielosen harten Bänke. Wir zogen aus, wie wir gingen und standen mit leerem Beutel und leichtem Herzen, nach Dransfeld, Kassel, Frankfurt und Heidelberg, und ich kam nach drei Wochen wieder zurück, wie ich ausgezogen wer. Oder endlich ich war, um ein Circular an die Haupt-Agenten der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft zu verfassen, in die schwierige Materie der Maximirung und der Gruppirung der Ortschaften versenkt und war gerade bei der Definition des Risiken-Begriffes angelangt, als ein anderer Vers desselben Liedes sieh einstellte: „Es nickt manch blondes Köpfchen und winkt mit Herz und Hand , sieht’s in der Sonne funkeln das grün-weiss-rote Band“. Da stand das Theeröschen an meinem Arbeitstische, und ich empfand den süssen Schauer des Blickes aus ihren grossen dunklen Sammetaugen, wie ich ihn vor 40 Jahren empfunden hatte, als sie mich auf unserer berühmten Theaterkneipe zum ersten Male anschaute.
Und als nun in den letzten Jahren dieser 50-jährige Kommers in Aussicht stand, und als der Zeitpunkt näher rückte und näher, in den letzten Monaten und gar Wochen, da gab es eine mächtige Anschwellung desselben Themas, und es wollte und wollte nicht weichen aus meinem Gedankenhag:
„Grün, Weiss und Rot sei ewig das Panier, hoch lebe die Hannovera für und für“
„Rot ist die Liebe, die uns hat vereinet,
„Die Freundschaft, die uns All‘ umschlungen hält;
„Sie daur‘, so lang der Sonne Strahl uns scheinet,
„Wie auch des Lebens harter Würfel fällt“.
Wohl ist vielen von denen, welche die grün-weiss-rote Fahne in fröhlichem Jugendmute hoch getragen haben, des Lebens Würfel hart gefallen. Die Briefe, die ich in den letzten Tagen als Antwort auf meine letzte Ermahnung erhalten habe, melden viel von schwerem Lebensschicksale, von Not und Sorge, Unglück und Krankheit, und ein Blick in die Listen der Verbindungs-Mitglieder zeigt; wie Viele von ihnen den Weg gegangen sind, auf dem Keiner zurückkehrt. Denke Jeder still seiner lieben Toten, ich denke speziell an den deutschen Weber, der wie Einer prädestinirt schien, an diesem Feste teilzunehmen.

„Ist Einer unserer Brüder dann geschieden, 
„Vom blassen Tod gefordert ab,
„So weinen wir und wünschen Ruh' und Frieden
„In unseres Bruders stilles Grab". —

„Gaudeamus“ singt der deutsche Student, wenn er nach dem Zusammenwerfen der Fackeln von der Totenfeier eines Kommilitonen nach Hause zurückkehrt, „Gaudeamus igitur, Juvenes dum surnus“. Wenn ich in diesem Kreise umherblicke, meine lieben Freunde, dann sehe ich viele graue Häupter, gefurchte Gesichter, ernste, von den Sorgen des Lebens beherrschte Mienen — und doch: Jetzt sind wir Juvenes, hier im Kreise der Jugend, an der Stätte der Jugendlust.
Vielleicht aber sind wir’s immer, und wenn wir es sind, so haben wir das zu einem nicht geringen Teile der Hannovera zu danken. Als uns Schule und Haus aus ihrem Zwange entliessen, als wir Herren unser selbst wurden und zur Freiheit gelangten, da setzte die Hannovera ein mit ihrer Erziehung und lehrte uns, dass die wahre Freiheit in der Ordnung besteht. Und zu dieser Disziplin, die sie übte, zu dieser Unterordnung unter ältere und erfahrenere Brüder lehrte sie uns Respekt vor ihren Institutionen und vor der Verfassung unseres Bundes und folgend daraus Respekt vor den grossen Gütern des Lebens, die unserem Leben einen idealen Gehalt geben, lehrte uns die Liebe zum Vaterlande. Es war eine traurige Zeit in Deutschland um die Mitte der fünfziger Jahre, als ich studierte, die Zeit der ödesten Reaktion unter dem Manteuffel’schen Regimente, und wir Jungen hatten in der Schule nicht viel gelernt von des Vaterlandes Grösse und Herrlichkeit. Da tönte Treitschke’s Flammenzorn in seinen Kommersreden in mein Ohr und Herz und Aegidis glühende Begeisterung, und mein Leben erhielt in seinem innersten Wesen eine Wandlung, die später entscheidend geworden ist für mein Schicksal.
Meine lieben Verbindungsbrüder, es ist nun sehr verlockend, an dieser Stelle in den Entwicklungsgang und die Geschichte der Hannovera hinabzusteigen und festzustellen, was sie im Laufe des halben Jahrhunderts, wie sie es geworden ist und ob sie gehalten hat, was sie versprochen. Dazu aber ist die einer Kommers-Festrede gegebene Zeit viel zu kurz. Auch sind wir ja Alle im Besitze der Geschichte der Burschenschaft Hannovera, die unser Freund Römpler mit grosser Mühewaltung und mit unermüdlichem Fleisse zusammengestellt hat, und für die wir ihm von ganzem Herzen danken. Es steht auf diesen Blättern viel zu lesen von redlichem Streben und von guten Erfolgen, aber auch von Misserfolgen, von Irrtum und Schuld. Wenn wir Alten und Aeltesten die jetzige Verbindung nicht ganz so finden, wie wir sie wohl gewünscht hätten, so liegt das in der Eigentümlichkeit ihrer Ent-wicklung , die mehr als einmal jäh unterbrochen worden ist, und daran, dass die Zeiten sich geändert haben. Wir müssen doch wohl zugeben, dass zu unserer Zeit andere. Verhältnisse auf deutschen Hochschulen obwalteten als jetzt, und wir müssen zufrieden sein, wenn wir sagen können: „Die alte Schale nur ist fern, geblieben ist uns doch der Kern“. Es ruht eine grosse Verantwortung auf den Schultern unserer Jungen, die ein teueres Vermächtnis zu verwalten haben, und die Ueberzeugung haben wir bereits gewonnen, dass ein redliches Streben bei ihnen vorhanden ist, sich dieses Vermächtnisses würdig zu erweisen. Wir haben die berechtigte Hoffnung, dass es ihnen gelingen wird, die Hannovdra ihren Nachfolgern rein und glänzend zu überliefern.
Und fragen wir nun: Was ist es denn eigentlich, was so viele in Amt und Würden und in schwerem Berufe stehende Männer aus allen Gegenden Deutschlands, ja aus dem Auslande, aus Russland und sogar über das Meer zu diesem Tage hierher geführt hat? so frage ich dagegen: Bedarf es einer Antwort? Muss das nicht etwas Gutes und Schönes sein, was uns Alte noch fesselt, was uns mit den Jungen verbindet, für das die Jungen mit all ihren Kräften streiten?
Trinket noch ein Mal aus dem Becher der Freiheit, wie ihn Euch in der Jugend die Hannovera kredenzte, singet noch ein Mal die Psalmen der Jugend , die Euch die Hannovera in ihren Liedern gelehrt, schwöret noch einmal den Schwur aus Euren jungen Tagen:

„Auf ewig treu dem Bunde, 
„Treu bis zur letzten Stunde!
„Grün, Weiss und Rot sei ewig das Panier,
„hoch, drei Mal Hoch, Hannovera für und für!"

Und nun lasst uns einen Salamander reiben nach dem alten Rhythmus; ich bitte das Präsidium, mir das Komando zu überlassen.
Vivat Crescat Floreat Hannovera!“
Hell erklang das Hoch, und schneidig klappte der Salamander, — um sofort einer weihevollen Stille Platz zu machen; ein schöner Beweis von der Wirkung der Rede.
Nach dem „Schwertlied“ der deutschen Burschenschaft ergriff stud. jur. Hans das Wort:
„In hehren, begeisterten Worten hat uns am heutigen Vormittag und am heutigen Nachmittag unser lieber Alter Herr Struckmann Loben und Streben der einstigen Burschenschaft geschildert, er hat uns vorgeführt, wie sie — verfolgt, beschimpft und unterdrückt — in glühender Liebe und unerschütterlicher Treue an ihren Idealen festhielt, an den Idealen, welche so schön und kurz zusammengefasst sind in den drei Worten: Ehre, Freiheit, Vaterland! Nach diesen schönen, von glühender Begeisterung getragenen Worten und vor einer so stattlichen Versammlung so vieler Alter Herren, welche diese schwere Zeit der Not selbst mit durchlebt und durchkämpft haben, wäre es ein kühnes Unterfangen von mir, schildern zu wollen, wie sich die deutsche Burschenschaft durch all diese Bedrängnisse hindurchgerungen hat, wie sie aus diesen Kämpfen schliesslich siegreich hervorgehen und ihr Hauptstreben, die Einigung des geliebten deutschen Vaterlandes, verwirklicht sehen durfte. — Lasst mich von uns sprechen, die wir dieses Werk, ein einiges Deutschland, vor uns haben. Unser lieber Alter Herr Struckmann hat uns heute Morgen vor Verflachung gewarnt, er hat uns gewarnt unsere einstige Stellung zu vergessen und die Merkmale, die uns von anderen Verbindungen unterscheiden, zu verlieren. Hier möchte ich nur sagen, dass sich auch die heutige Burschenschaft ihrer Ideale bewusst ist, und dass sie stolz darauf ist, Burschenschaft zu sein und sich von anderen Verbindungen zu unterscheiden. Es sind heut 57 Burschenschaften, von denen 6 allein in diesem Jahre ihr 50-jähriges Bestehen feiern, die zur allgemeinen deutschen Burschenschaft vereinigt sind. Sie alle wissen sieh eins in dem Streben, ihre Mitglieder zu ehrlichen, wehrlichen, deutschen Burschen zu erziehen, wissen sich eins in dem Streben, deutsche Art und deutsche Sitte zu bewahren und zu verbreiten.
„Und es wird am deutschen Wesen
Einmal noch die Welt genesen!“
so schliesst Geibel eines seiner Gedichte. Von diesem hier sich ausdrückenden Glauben an die Mission Deutschlands ist auch die heutige deutsche Burschenschaft erfüllt, dessen glaube ich Euch versichern zu dürfen, liebe Alte Herren; sie weiss, dass sie mit dem Aufgeben der altburschenschaftlichen Ideale sich ihre Existenzberechtigung nehmen würde. Möge sie ewig blühen in dem Streben, ihre Jünger zu echten deutschen Männern heranzubilden, die jederzeit bereit sind, Gut und Blut, Leib und Leben für die Sache des deutschen Vaterlandes dahin zu geben. Und so fordere ich die werten Anwesenden auf, mit mir auf ein ewiges vivat crescat floreat der deutschen Burschenschaft einen donnernden Salamander zu reiben!“
Während nunmehr das von Aegidi vor 45 Jahren geschenkte schöne Album unter den Festteilnehmern zum Eintragen ihrer Namen umging; wurden die Vorbereitungen zum Landesvater getroffen, und diese Burschenfeier, von 50 Paaren gestochen, beendigte den offiziellen Teil des Kommerses.
Das Lied von der alten Burschenherrlichkeit leitete zur Fidulität über; im anschliessenden Semesterreiben wurde manch ernster und manch heiterer Spruch gethan, und lauter Beifall ertönte, als er der ältesten anwesenden Alten Herren sein Glas den Gründern der Hannovera weihte, von denen wir leider keinen einzigen hatten begrüssen dürfen.
Und ehe noch die Wogen der Fröhlichkeit höher und höher schlugen, lenkte der Alte Herr Frensdorff den Sinn der Versammlung nochmals auf ein ernsteres Gebiet:
„Ich hätte gewünscht, dass das, was ich zu sagen vorhabe, von einem andern gesagt, und dass früher gesagt wäre. Das eben gesungene Lied mit seiner feinen Zeichnung der vier Fakultäten giebt ir den Mut, jetzt noch, in diesem vorgerückten Stadium, nach dem Beginn der Fidelitas, das bisher Versäumte nachzuholen. Ich habe in diesen Tagen viel singen und sagen hören von all den Freuden, die uns einst hier vereint, von der alten Freundschaft heil’gem Band, von dem Vaterlande und seinem Ruhme, — aber ein kleines Wort habe ich nicht gehört, eine Erinnerung an das, was uns alle auf den Boden Göttingens geführt hat, an die Wissenschaft, an die Georgia Augusta, die universitas litterarum. Wer wie ich seit fast vierzig Jahren seine Dienste ihr gewidmet, wer einst die Ehre gehabt hat, an ihrer Spitze zu stehen, dem wird es erlaubt sein, an die alma mater zu erinnern, die ihre Söhne für Dienst des Staates, der Kirche und der Gesellschaft mit ihren vielgestaltigen Anforderungen ausgerüstet und ins Leben entlassen hat. Ich will nicht davon reden, ob wir immer von dem, was sie uns darbot, den rechten Gebrauch gemacht, ob wir den weisen Spruch: „Tages Arbeit — Abends Gäste, saure Wochen — frohe Feste« immer befolgt haben. Das sind unfruchtbare Reminiscenzen, olle Kamellen. Aber ein anderer Umstand dünkt mich der Beherzigung wert. Der Kampf des Lebens, für den die Universität, die Studienzeit vorbereiten soll, wird immer schwerer. Den Kreisen der Gebildeten, die bisher an der Spitze der Nation gestanden haben, rücken andere nach und suchen sie zu überflügeln. Ich denke an die Männer, die den militärischen Beruf ergreifen, wie an die, die sich in den verschiedenen Zweigen der Technik ausbilden. Wie anders wird in diesen Berufen gearbeitet als auf den Universitäten, und welch umfassende Bildung eignen sie sich an! Die Universität ist nicht eine blosse Fachschule, sie ist eine universitas litterarum; aber wie wenig benutzen die Studierenden das, was sie an philosophischen, historischen, litterarischen Vorlesungen bietet. Die studierten Kreise haben allen Anlass dafür zu sorgen, dass sie nicht in das Hintertreffen geraten. Diese Sorgen und Bedenken hier einmal auszusprechen, wo ich eine so grosse Zahl junger und alter Freunde der akademischen Kreise versammelt sehe, habe ich für meine Pflicht gehalten. Ich besorge nicht, dass man in dieser Zeit der Interessenpolitik auch den deutschen Professor beschuldigen wird, sein Interesse zu verfolgen. Ich weiss, dass der Aufruf an die Studierenden, über den Freuden des akademischen Lebens die Pflege der Wissenschaft nicht zu vergessen , nicht einem einseitigen Interesse, sondern dem Wohle und dem Gedeihen des Ganzen dient. „Ihr seid das Salz der Erden“ ist oft den Studierenden zugerufen. Sorgen Sie, meine Herren, dass das Wort wahr bleibe, und dass das Erbe der Väter ungeschmälert auf die Nachfolger übergehe! Möge die Georgia Augusta, in ihrem Teile dazu mithelfen, dass dies Ziel erreicht werde. Die Georgia Augusta lebe hoch!“
Nach diesem Grusse an die alma mater entwickelte sich ein recht fröhlicher Kneipbetrieb, durch eine humorvolle Bierzeitung gewürzt, welcher sich so lange hinausdehnte, dass keines der drei — sonst einem Trunke nicht abgeneigten — Ausschussmitglieder das Ende mit eignen Augen sah.
Am folgenden Vormittag erstattete im zweiten Festkonvent die Schuldentilgungskommission ihren Bericht. Trotzdem die Alte-Herren-Kasse die Bezahlung der früheren Schulden sich zur Aufgabe gemacht hatte, mussten die Aktiven infolge der seit 14 Jahren herrschenden Ueberschuldung zur Befriedigung der drängenden Philister stets ein neues Loch aufmachen, um ein altes stopfen zu können; es ergab sich daher eine Schuldmasse von etwa 3200 M. Die anwesenden Alten Herren gewannen — namentlich nach den Ausführungen Friedländers — die Ueberzeugung, dass damit endlich einmal reine Bahn geschaffen werden musste. Eine sofort veranstaltete Sammlung ergab einen Betrag von 2400 M, welcher am nächsten Tage sofort zur Befriedigung der Gläubiger verwendet wurde. Hinsichtlich des Restes, welchen ein Alter Herr freundlichst vorgestreckt hatte, wurde beschlossen, sich mit einer Bitte an die nicht beim Fest zugegen gewesenenen Alten Herren zu wenden. Da diese Bitte voraussichtlich von dem gewünschten Erfolge begleitet sein wird, können wir jetzt schon getrost behaupten, dass es uns am Fest gelungen ist, das Haus der Hannovera für die Zukunft auf festen Boden zu stellen, und dies ist ein Erfolg, zu welchem wir uns nur von Herzen Glück wünschen können.
Naturgemäss wird von der aktiven Burschenschaft verlangt, dass sie in Zukunft derartige Missstände nicht wieder aufkommen lässt; es wurden daher einige Beschlüsse gefasst, um hierfür die erforderlichen Garantien zu bieten. Namentlich wurde die Buch- und Kassenführung der Aktiven einer scharfen Kontrolle seitens der Alte-Herren-Kasse unterstellt. Da Crameer, der verdiente bisherige Leiter derselben, aus Gesundheitsrücksichten seine Wiederwahl ablehnte, wurde ihm der Dank der Versammlung für seine erfolgreichen Bemühungen votiert; zu seinem Nachfolger wurde Rechtsanwalt Dr. Friedländer (Potsdam, Mauerstr. 10) ernannt, und zu Mitgliedern des Kuratoriums Rose und Römpler.
Zur Erholung von den anstrengenden Beratungen winkte nunmehr das Katerfrühstück. Im Festsaale war ein kaltes Buffet aufgestellt, von welchem sich jeder nach Herzenslust zulangte; trefflich schmeckte dazu das labende Bier, und bald erklang manch fröhlich Lied und manch ein lustiger Anstich. Es wäre falsche Bescheidenheit, wenn der geschäftsführende Ausschuss die Worte des Dankes und der Anerkennung aus Raspes Munde verschweigen wollte, welche ihm für seine erfolggekrönte Thätigheit gewidmet wurden, und von welchen Berndt einen Teil auf Römpler ablenkte.
Mittlerweile war es 2 Uhr geworden und alles rüstete sich zur festlichen Ausfahrt. 35 Wagen, mit grün-weiss-roten Fahnen geschmückt, nahmen die Festgesellschaft auf, und unter schmetternder Musik ging der Zug durch die Weender- und Prinzenstrasse über die Allee zum Bahnhof, dann über die Groner- wieder auf die Weenderstrasse und dann zum Thor hinaus. 8 berittene Chargierte im vollen Wichs, darunter 2 der Franconia-Bonn, führten den Zug, und mit Freude und Stolz sahen die Göttinger Philister die Musensöhne an sich vorbeifahren; auch die Studentenschaft war zahlreich auf der Weenderstrasse anzutreffen, um den Festzug zu betrachten.
In Nörten angekommen, tranken wir zunächst bei Fleischmann (früher Kellner) Kaffee oder ein Glas Bier; darauf zogen wir alle zum Hardenberg, auf welchem sich ein fröhlicher Betrieb entfaltete. In zwanglosen Gruppen lagerten wir uns im Grase oder um die kunstlosen Tische, und wieder klangen die Lieder zum Preise der Burschenfröhlichkeit. Mit einem Schlage verwandelte sich das Bild; zu den Klängen der Kapelle drehten sie die Burschen und Füchse mit den Damen im fröhlichen Reigen; auch manch Alter Herr beugte sich Terpsichorens Szepter und schwenkte lachend seine Beinchen gegen die Aussenwelt. Und wieder eine neue Szene: als die untergehende Sonne mit ihren Strahlen die alte Ruine vergoldete, standen die 8 Chargierten in Wichs mit gezückten Schlägern auf den Zinnen, während die Musik gerade die feierlichen Weisen aus dem Lohengrin hören liess. Es waren Augenblicke auf der alten Veste, zu deren jedem man sagen mochte: verweile doch, du bist so schön!
Was klingt da plötzlich? Eine bekannte Melodie ….. vom Doktor Eisenbart! Richtig, da sitzen die Alten Herren zusammen und singen — zwar an ungewöhnlicher Stätte — jeder seinen Leibvers aus der zum Feste neu gedruckten Nationalhymne unter stetig sich steigernder Heiterkeit und Lust!
Traute Stunden, wie schnell seid ihr ins Meer der Ewigkeit getaucht! Die scheidende Sonne mahnte zum Aufbruch und ungern schieden wir von der Ruine Hardenberg. In langer Reihe gings wieder nach Nörten, wo mit den Damen noch einige Zeit gesessen und kommersiert wurde. Und in welcher Stimmung wurde da gezecht! Nie seit vierzig Jahren hat wohl das „Juchheirassassa, die Grünen sind da!“ so markig und so hoffnungsfreudig in die Welt geklungen, als am Abschluss dieses herrlichen Festes, welches weithinaus kündete, dass die alten Grünen die alte Treue gehalten haben, und welches den jungen Grünen klar vor Augen stellte, welchen festen Rückhalt sie an ihren Alten Herren haben.
Um 10 Uhr hiess es: Auf zur Heimfahrt — und dahin rollten wieder die Wagen. Zur Union gings wieder, in den Festsaal. Hier erwachte aber die Tanzlust der Damen von neuem und ihre Bitten erweichten den strengen Festausschuss, sodass bald wieder ein flottes Tänzchen im Gange war. Und in überwallender Empfindung wandte sich der Alte Herr Dellevie nochmals in schnell entworfenen, launigen Knüttelversen an die Damen, während Crameer seinen Dank an diejenigen unserer Freunde richtete, welche unser Fest so ausgiebig hatten ausgestalten helfen — an die anwesenden Bonner Franken.
Obschon unser Fest hiermit offiziell zu Ende war, können wir als gewissenhafte Berichterstatter nicht verschweigen, dass am Freitag sich ein bedeutender Teil der Festteilnehmer nebst Damen noch zu einer zweiten Ausfahrt zusammenfand, welche diesmal das waldumkränzte Bremker Thal zum Ziele hatte und gleichfalls zu allgemeiner Befriedigung verlief.
Die Alten Herren und Gäste zerstreuten sich nunmehr wieder nach ihrer Heimat; in aller Augen aber stand fest der Vorsatz geschrieben, den dann auch beim Abschied der Mund aussprach:
„Auf fröhliches Wiedersehen beim 55. Stiftungsfeste der Hannovera!“
Liebe Freunde! Die frohen Festtage sind vorüber; der Sang ist verschollen, der Wein verraucht. — „Was vergangen, kehrt nicht wieder, Aber ging es leuchtend nieder, Leuchtets lange noch zurück!“. In diese von Raspe zitierten Worte wird jeder Teilnehmer am Feste gern einstimmen. Wenn das Fest aber als wohlgelungenes in Aller Erinnerung weiterlebt, so hat daran auch das finanzielle Ergebnis seinen Anteil. Durch die von den Alten Herren in den vorhergehenden Semestern gezahlten freiwilligen Festbeiträge in Verbindung mit den offiziellen Zahlungen der Teilnehmer (18 M. die Alten Herren, 10 M die jungen Grünen) sind wir instand gesetzt worden, die entstandenen Kosten glatt zu decken, ohne der Burschenschaft neue Lasten aufzuerlegen oder eine nachträgliche Repartition auszuschreiben. Die ziffermässige Abrechnung wird — als in den Rahmen eines Festberichts nicht gehörig — mit dem Semesterbericht Euch zugehen.
Liebe Brüder! Ehe wir das Amt, zu welchem Euer Vertrauen uns berufen hat, in Eure Hände zurücklegen, lasst uns noch eine Bitte aussprechen. Der Festkonvent hat bewiesen, eine wie feste Stütze die Burschenschaft an ihren Alten Herren haben kann, wenn diese geschlossen ihre Kräfte vereinigen. Suche Jeder an seinem Teile diesen Zusammenschluss nach Kräften zu fördern. Der Hauptfaktor zu einer Konzentrierung der Alten Herren ist die Alte-Herren-Kasse, durch deren Vermittelung Euch auch regelmässige Nachrichten über die jungen Aktiven und Eure alten Jugendfreunde zugehen. Fahret fort, Euch an dieser Einrichtung zu beteiligen, und Ihr, die Ihr noch nicht dazu gehört, tretet bei! Viele kleine Beiträge geben einen stattlichen Fond. Setzt die Kasse instand, auch für unser 55. Jubiläum bereits einen Grundstock anzusammeln und den Aktiven in Zeiten der Not kräftig beizuspringen! Beweist, dass Ihr auch heute noch singt wie in den Zeiten Eurer frohen Jugend:

Auf ewig treu dem Bunde,
Treu bis zur letzten Stunde!

Mit herzlichem Bundesgruss
Der geschäftsführende Ausschuss für das 50. Stiftungsfest.
Berndt. Crameer. Römpler.
Magdeburg, Bentheim, Naumburg, im August 1898.


(ks-10/2019)