Albrecht Ritschl (1822 – 1889)

Der Erbauer unseres Hauses

(Artikel aus der Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 84 (Neue Folge), April/Oktober 1994, Nr. 1/2, Seiten 53–57 – Abbildung ergänzt.)


Das erste, was mir ins Auge fiel, als ich meine Schritte zum ersten Mal vor das mir bis dahin unbekannte Haus der Grünen Hannoveraner lenkte, war nicht die Fahne oder das Banner, es war auch nicht der ruinöse Zustand des Hauses (der fiel mir freilich gleich als zweites auf!), nein, es war die Gedenktafel an der Vorderfront:

Albrecht Ritschl
Theologe
1864-1889

Ich war begeistert. Ich durfte nicht nur zum ersten Mal ein Verbindungshaus betreten, sondern zugleich das Gebäude, in dem einer der bedeutendsten Theologen des 19. Jahrhunderts viele Jahre seines Lebens gewohnt hat. Wenige Monate später zog ich selbst in dieses Haus. Die Vorstellung, mich in denselben Räumen zu bewegen und Theologie zu betreiben wie vormals Albrecht Ritschl, war (und ist) inspirierend und veranlaßte mich dazu, mich eingehender mit diesem Mann und seiner Theologie zu beschäftigen, als ich es in meinen Hamburger Studiensemestern getan hatte. Da auch von seiten der Aktivitas Interesse bestand, war es mir vergönnt, die Früchte dieser Beschäftigung im Rahmen eines Vortrages im Sommersemester 1994 weiterzugeben. Aufgrund des positiven Echos auf diesen Vortrag und um auch denen, die dabei nicht anwesend waren, die Gelegenheit zu geben, etwas über den Mann zu erfahren, der unser schönes Haus erbaut hat, habe ich mich entschlossen, an dieser Stelle eine Kurzfassung zu veröffentlichen.

Albrecht Benjamin Ritschl wurde am 25. März 1822 in Berlin geboren. Sein Vater Georg war damals Pfarrer an der Marienkirche. Als er 1828 zum Generalsuperintendenten ernannt und mit dem Titel „Bischof von Pommern“ nach Stettin berufen wurde, siedelte die Familie dorthin über.

Den Entschluß, Theologe zu werden, faßte Albrecht Ritschl früh; „durch einen spekulativen Drang, das Höchste begreifen zu wollen“, erklärte er sich angetrieben. Während seines Studiums lernte er viele namhafte theologische Fakultäten seiner Zeit kennen; er studierte in Bonn, in Halle, wo er 1843, also mit 21 Jahren, zum Dr. phil. promovierte, in Berlin, in Heidelberg und in Tübingen. 1846 promovierte Ritschl – wieder in Bonn – zum Lic. theol. und habilitierte sich dort zwei Monate später. 18 Jahre lehrte er daraufhin in dieser Stadt. Erst 1864 wurde er nach Göttingen berufen und nahm ohne langes Zögern den Ruf an. Doch war sein Wechsel nicht unproblematisch; denn Ritschl war ja Preuße, Göttingen aber gehörte damals bekanntlich zum Königreich Hannover, das sich 1866 mit Österreich verbündete und ihm im Deutsch-Österreichischen Krieg militärisch zur Seite stand. So hatte es Ritschl in Göttingen zunächst nicht leicht. „Wir haben allerdings“, so schreibt er, „Wunderbares, Erhebendes erlebt“; „recht freuen haben wir uns aber nicht dürfen, umgeben von dem hannoverschen und sonst hier aufgehäuften Particularismus, der … einen Terrorismus gegen alle anderen Ansichten ausgeübt hat, daß die wenigen Preußenfreunde, um nicht ad fustes zu kommen, öffentlich schwiegen und der Freude unter vier Augen doch nicht recht froh werden konnten. Mußte man nun in der ersten Zeit erwarten, daß das Welfentum dereinst restaurirt würde, so war es der … Spionerie gegenüber sogar nicht ungefährlich, Farbe zu bekennen. Hat sich doch ein Briefträger gewiß nicht ohne Auftrag bei meiner Köchin erkundigt, ob ich nicht die preußische Einquartierung besonders freundlich behandelt hätte.“ Allerdings, so erklärt Ritschl an anderer Stelle, knüpfe sich an sein neues Haus, welches allmählich der Vollendung entgegengehe, „einiges Gefühl für Göttingen“. Und als der Krieg beendet ist, schreibt Ritschl, der gerade plant, zur Erholung von einer Lungenentzündung nach Ems oder Badenweiler zu reisen: „Gestern ist auf dem Rathause die preußische Fahne aufgezogen; es wird also wohl nur des Abschlusses des Friedens mit Österreich bedürfen, daß die Einverleibung in Preußen erklärt wird. Dies möchte ich noch hier vor meiner Abreise erleben, … denn nachdem ich durch die Geburt unbewußt genöthigt worden bin, Preuße zu werden, ist es doch etwas seltenes, daß wir die gleiche Nöthigung noch einmal mit Bewußtsein erfahren … Und für meine Söhne ist es das Beste, daß sie Preußen werden!“

Im Frühjahr 1867 wurde Ritschls neues Haus, durch die Unruhen der Kriegsjahre erheblich verzögert, fertiggestellt. Schon damals ging es in diesem Haus offenbar hoch her. Ritschl berichtet z. B. davon, daß er sein Haus für den von 51 Personen besuchten Polterabend der Tochter eines Fakultätskollegen zur Verfügung stellte: „Den Höhepunkt des Festes bildete eine Dichtung, die von neun Personen aufgeführt wurde, in Anreden an das Brautpaar, die schließlich in einer Gruppe der Borussia und Germania einen patriotischen Aufschwung edelsten Stiles nahmen.“

Mit der Zeit gefiel es Ritschl in Göttingen immer besser. Bis zu seinem Tod sollte er nun in Göttingen bleiben. Hier sind seine Hauptwerke entstanden, allen voran das dreibändige Werk „Rechtfertigung und Versöhnung“ und die ebenfalls dreibändige „Geschichte des Pietismus“. Dazu veröffentlichte er in rastloser Tätigkeit kleinere Monographien und Aufsätze. – Am 20. März 1889 ist Albrecht Ritschl in seinem Arbeitszimmer gestorben.


Was war Albrecht Ritschl für ein Mensch?

Seine Arbeit scheint sich zunächst in historischen Studien zu erschöpfen. Er hat Phasen völliger Ideenlosigkeit. In Bonn schreibt er einmal: „Im Herbst muß ich wieder ein Buch anfangen, sonst bin ich nicht fleißig. Worüber, weiß ich noch nicht.“ Der frühe Ritschl will kirchlich sein, aber er ist ein ausgemachter Feind aller Erbaulichkeit, kritisch gegen Predigten, pöbelhaft zufahrend gegen kirchliche Konferenzen und Gruppen. Was nach kirchlicher Orthodoxie, vor allem nach konfessionell-lutherischer, riecht, ist ihm zuwider, von der katholischen Theologie ganz zu schweigen. Bei seinen Gichtanfällen in Göttingen erklärt er: „Die Hermannsburger beten wieder.“ Seine letzte Predigt ist aus dem Jahre 1863 bezeugt. Er hat dafür gesorgt, daß der akademische Gottesdienst in Göttingen auf einen 14tägigen Turnus reduziert wurde. Warum er dem Liberalismus, der damals an den Universitäten immer mehr an Einfluß gewinnenden liberalen Strömung in der Theologie, nicht einfach zuzurechnen ist, ist leicht gesagt: er war eine fast irreligiös zu nennende Gestalt. Unerbaulich war er, ein theologischer Intellektualist. Es ist von ihm die Frage überliefert: „Soll ich denn einen Rausch haben um Christi willen?“ Er schrieb einen Stil, der an begrifflicher Härte und Klarheit nichts zu wünschen übrigließ. Und so war er auch in Seminaren oft kalt und rücksichtslos.

Ritschl war ein Bourgeois durch und durch, ein Freund guter Geselligkeit und des Humors; er wußte die Kommandeure aller preußischen Regimenter, und die Rangliste der preußischen Armee war bis zuletzt seine Erholungslektüre. Seine Liebesbriefe sind in der Literatur an Nüchternheit ohne Vergleich. Ein Theologe unserer Tage hat über Ritschl geschrieben: „Mit ihm tritt der Positivismus in die Lehrsäle der evangelischen Theologie ein, und das protestantische Christentum macht seinen Frieden mit dem bürgerlichen Zeitalter.“

Wie sieht es nun mit der Theologie Albrecht Ritschls aus? Es ist hier natürlich nicht möglich, Ritschls ungeheuer umfangreiche theologische Arbeit angemessen zu würdigen, geschweige denn, sein komplexes theologisches System auch nur ansatzweise darzustellen. Ich muß mich hier darauf beschränken, auf einige wenige Kernpunkte seiner Theologie einzugehen. Wer sich mehr und besser informieren möchte, erkundige sich bei mir nach der einschlägigen Literatur.

Ritschls Theologie zeichnet sich durch eine starke Reduktion der dogmatischen Aussagen aus. Vor allem in der Lehre von Gott wird diese Reduktion sichtbar. Das Gottesbewußtsein wird bei Ritschl streng vom Weltbewußtsein, von aller Welterfahrung getrennt. Ritschl vermeidet alle unsere Erfahrung übersteigenden Seinsurteile über Gott, z. B. Gott sei „das Absolute“. Solche metaphysischen Urteile sucht man bei Ritschl vergeblich.

Ritschls erkenntnistheoretische Grundüberzeugung heißt: Nur Gottes eigene Kundgabe, seine „Offenbarung“ kann Ausgangspunkt christlicher Theologie sein. Daraus ergibt sich die Frage: Als wen gibt Gott sich kund? Ritschls Antwort: „Der vollständige Begriff von Gott ist die Liebe.“ Auf diesen lapidaren Satz reduziert Ritschl also die traditionelle Lehre von den Eigenschaften Gottes. Die Rede von einem „Zorn Gottes“ verwirft er. Nun stellt sich aber die weitere Frage: Wie offenbart Gott, daß er Liebe ist?

Damit sind wir bei der Christologie Ritschls, bei seiner Lehre von Christus. Christus ist für ihn der „Offenbarer Gottes“. Gewiß, Ritschl nennt Christus Gottes Sohn, die christologischen Prädikate des Neuen Testaments – Messias, Sohn Davids, Erlöser, Heiland etc. – macht er sich alle zueigen. Aber an metaphysischen Aussagen über Christus ist ihm gar nichts gelegen. Wir erfahren bei Ritschl nichts über die Zwei-Naturen-Lehre des altchristlichen Dogmas (Jesus sei wahrer Gott und wahrer Mensch), nichts über den präexistenten Christus und auch nichts darüber, was mit Christus nach seinem Tod geschehen ist. All das interessiert Ritschl nicht, weil sich darüber nach seiner Meinung nichts sagen läßt. Christus macht uns Gott offenbar – das muß genügen. Entscheidend ist an dieser Lehre, daß nach ihr von einer Einwirkung Christi auf Gott keine Rede sein kann.

Das ist insbesondere für Ritschls Auseinandersetzung mit der traditionellen Deutung des Kreuzestodes Jesu von besonderem Gewicht. Diese traditionelle Deutung ist schon im Neuen Testament angelegt, wirkungsmächtig wurde sie für die abendländische Theologie aber erst durch ihre geniale Ausformulierung im Werk des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury (1033/34-1109). Sie besagt im wesentlichen folgendes: Die Sünde des Menschen ist als Angriff auf die Majestät Gottes von unendlichem Gewicht und fordert eine ihrem unendlichen Gewicht entsprechende Genugtuung (satisfactio). Die Menschen sind zu einer solchen Genugtuung außerstande, weil sie Gott ohnehin alles schulden. Von daher gibt es nur eine Möglichkeit: Gott selbst mußte in der Person seines Sohnes Mensch werden, um als Gott-Mensch Gott dem Vater sein Leben als Genugtuung für die Sündenschuld der Menschen darzubringen. Die Kernaussage der Anselmschen Interpretation des Kreuzes Christi ist also: Der durch die Sünde unendlich beleidigte und zornige Gott wird durch das unendliche Gewicht des Todes seines Sohnes wieder versöhnt.

Wie geht nun Ritschl mit dieser Deutung des Todes Jesu (die unbegreiflicherweise noch heute in weiten Kreisen der Theologie und Kirche beherrschend ist) um? Nach dem bisher Gesagten wird es nicht verwundern, daß Ritschl diese quasi juristische Deutung aus seiner Theologie eliminiert. Von einem Zorn Gottes und von einer Einwirkung Christi auf Gott, den Voraussetzungen der Anselmschen Interpretation, kann ja nach Ritschl gar keine Rede sein. Dennoch handelt auch Ritschl vom Tod Jesu. Er stellt dabei aber den genialen Entwurf Anselms ebenso genial auf den Kopf: Nicht Gott muß mit dem Menschen versöhnt werden, sondern der Mensch muß mit Gott versöhnt werden! Nicht Gott ist zornig, sondern der Mensch ist es, der sich einen gesetzlichen und zornigen Gott vorstellt und so in einem glaubenslosen Mißtrauen gegen Gott lebt. Da aber in Gott kein Zorn ist, sondern grenzenlose Vergebungsbereitschaft, muß der Mensch aus seinem Mißtrauen gegen Gott befreit werden. Dies geschieht nach Ritschl durch die Verkündigung Jesu, die uns die Liebe Gottes offenbart (s.o.), und so auch durch sein Sterben, mit dem er diese Verkündigung besiegelt hat. Das Vergeltungsschema der Anselmschen Kreuzestheolgie ist also bei Ritschl ganz und gar aufgehoben. Daß der Mensch durch Christus erfährt, daß Gott die Liebe ist, das heißt bei Ritschl „Erlösung“, „Versöhnung“ und „Rechtfertigung“.

Kommen wir nun zu dem Begriff, der im eigentlichen Zentrum der Theologie Albrecht Ritschls steht. Es ist der Begriff des „Reiches Gottes“. Auch hier müssen wir etwas weiter ausholen, um Ritschl zu verstehen, und zunächst einen Blick auf die Vorgeschichte dieses Begriffes werfen. Einer der wenigen Konsense der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft besteht darin, daß die Verkündigung des Reiches Gottes das Zentrum der Verkündigung Jesu von Nazareth war. Ebenso sicher ist, daß Jesus sich das Reich Gottes als ein mit einer kosmischen Katastrophe und unter apokalyptischen Zeichen hereinbrechendes übernatürliches Reich vorgestellt und dessen Anbruch wohl noch zu seinen Lebzeiten erwartet hat. Damit hat er sich, wie die Geschichte beweist, geirrt. Die ersten Jünger hielten aber dennoch an der Erwartung des bald hereinbrechenden Reiches Gottes fest, weil sie durch den Glauben, daß Gott Jesus von den Toten auferweckt habe, zu der Überzeugung kamen, daß der Tod Jesu nicht das Ende der Geschichte Gottes mit Jesus gewesen sei. Der Unterschied zwischen ihrer und Jesu Vorstellung vom Reich Gottes besteht jedoch darin, daß nun Jesus selbst Bestandteil der Erwartung wurde. Man glaubte, daß das Reich Gottes anbrechen werde, wenn er auf den Wolken des Himmels wieder zur Erde zurückkehre. Nun, auch diese Erwartung hat die Geschichte mittlerweile als Irrtum erwiesen. Aber das soll uns hier nicht weiter interessieren. Wir fragen hier nur danach, wie Albrecht Ritschl das Reich Gottes als den Zentralbegriff seiner Theologie interpretiert.

Das Reich Gottes hat bei Ritschl nichts mehr mit dem zu tun, was Jesus und die ersten Jünger dazu gesagt haben. Ritschl faßt das Reich Gottes nicht als überweltliches, transzendentes, sondern als innerweltliches, also geschichtsimmanentes Reich auf. Der Mensch ist berechtigt und befähigt, in der im Glauben erfahrenen Gemeinschaft mit Gott am Reiche Gottes mittätig zu sein. Auf die Tätigkeit am Reich Gottes muß alles Streben des Menschen ausgerichtet sein, denn „der Endzweck, welchen Gott in der Welt verwirklichen will, (soll) eben durch das menschliche Geschlecht verwirklicht werden.“ Konkret heißt das: In den weltlichen Ordnungen der Familie, der Berufsstände und des Staates will das Reich Gottes verwirklicht werden. Auf dem Wege der Berufsausübung, des Gebetes und der Ergebung in Gottes Willen ohne alle Nebenpfade, Steigerungen und Hintergedanken stellt die christliche Vollkommenheit nach Ritschl keine Utopie mehr dar. Durch die gewissenhafte Erfüllung der jedem einzelnen in seinem Alltagsleben aufgetragenen Berufspflicht und keiner höheren läßt sich das Reich Gottes herbeiführen. Von daher verwundert es nicht, daß der weltflüchtigen Frömmigket, dem Mönchtum und dem Pietismus, Ritschls leidenschaftlicher Kampf galt. Entscheidend ist dabei, daß Ritschl und seine Nachfolger davon überzeugt waren, mit ihrem Verständnis vom Reich Gottes dem zu entsprechen, was in Jesu eigener Predigt letztlich gemeint war. Dieser Überzeugung wurde aber um die Jahrhundertwende durch die neutestamentliche Forschung der Boden entzogen. Ritschls eigener Schwiegersohn, Johannes Weiß, zeigte, daß die Reichsverkündigung Jesu keineswegs eine ethische Entwicklung der Menschheit zu einer großen sittlichen Gemeinschaft meinte, sondern – in Übereinstimmung mit der jüdischen Apokalyptik seiner Zeit – ganz und gar von der Naherwartung eines übernatürlichen Eingreifens Gottes und der Aufrichtung eines überweltlichen, himmlischen Reiches geprägt war (s.o.). Diese Neuentdeckung des apokalyptischen Horizontes der Verkündigung Jesu hat Ritschl freilich nicht mehr erlebt.

Was läßt sich zum Abschluß über den Erbauer unseres Hauses sagen? Dieser Mann, der so ganz in das Schema eines deutschen Professors eingesponnen war, hat die Kirche seiner Zeit zutiefst beunruhigt. Für die Generation der großen Historiker der protestantischen Theologie aber war er ein Bahnbrecher, indem er der historisch-kritischen Forschung zur Unbefangenheit verholfen hat. Und für die Liberalen, denen er selbst nicht zugerechnet werden wollte, war er ein Befreier von dogmatischen Hemmungen und ein Wegweiser ins Neuland. Er hat Generationen zu einem nüchternen theologischen Denken im Horizont des modernen, des säkularisierten Bewußtseins erzogen.

Es ist klar, daß zahllose deutsche und andere Christen im Wilhelminischen Zeitalter Ritschls Theologie verstanden und begrüßten. Man weiß aber auch, daß andere, besonders die Generation nach dem Ersten Weltkrieg, Ritschls Theologie als Verrat des Evangeliums an den Geist des Bürgertums betrachteten. In der Tat besteht bei Ritschl leicht die Gefahr, ihn so zu interpretieren, als stehe die Erlösung im Dienste des Moralismus oder einfach gesagt: Gott im Dienste des Menschen. So wird man zugeben müssen: Ritschls Moralismus und sein Rationalismus wiesen ihm sowohl seine Wege wie auch seine Grenzen. Deshalb sei abschließend über Ritschls Theologie gesagt, was wohl für die Arbeit eines jeden Theologen gilt: Sie ist nicht durch das gerechtfertigt, was sie denkend ausspricht, sondern durch den, auf den sie blickt.

Frank Schleritt (WS 93/94)

Albrecht Benjamin Ritschl (25. März 1822 bis 20. März 1889)

(ks-04/2021)