Johann Heinrich Vogel – ein Grüner?

Die etwas merkwürdige Überschrift zu diesem Artikel habe ich aus zwei Gründen gewählt, um etwas über unseren Bundesbruder Prof. Dr. phil. Johann Heinrich Vogel zu sagen, nämlich als Mitglied der Hannovera sowie als Wissenschaftler, der zudem von 1919 bis zu seinem Tode 1930 Vorsitzender des Altherrenverbandes war.

Jugend und Studentenzeit

Geboren wurde er am 24. September 1862 in Aerzen (Amt Hameln/Landdrostei Hannover) als Sohn des praktischen Arztes und späteren preußischen Sanitätsrates Dr. med. Friedrich Vogel. Die Familie verlegte den Wohnsitz nach Freiburg an der Elbe (Landdrostei Stade); Johann Heinrich Vogel besuchte zuerst das Realgymnasium in Vegesack und dann das in Harburg. 1882 bezog er die Universität Halle, um neue Sprachen zu studieren. Bald wechselte er das Studienfach und wandte sich der Chemie zu. Er trat in die Burschenschaft Germania Halle ein, die heute in Mainz ansässig ist. Nach einen Semester in Freiburg im Breisgau immatrikulierte er sich in Göttingen. Dort beteiligte er sich im Sommersemester 1884 an der Wiedereröffnung der Hannovera.

Mitglied in der Hannovera

Sechs Inaktive anderer Burschenschaften hatten sich zusammengeschlossen, um eine sieben Jahre zuvor in ein Corps umgewandelte Burschenschaft zu neuem Leben zu erwecken. Danach waren sie bestimmt stolz darauf, dass das gelungen war, und zweifelsohne bestrebt, dass ihr Werk erhalten bleibt. Einer indes, Johann Heinrich Vogel, tat noch etwas mehr. Er ließ sich überzeugen, den Vorsitz in der Altherrenschaft zu übernehmen.
Dazu muss man wissen, dass sich unter den Alten Herren der Hannovera schon während des 1. Weltkrieges die Auffassung verstärkte, man müsse die Strukturen im Altherrenverband straffen. Das wurde bald nach Kriegsende begonnen. Zwar blieb der Altherrenverband ein nicht eingetragener Verein, hatte aber nun einen Vorsitzenden (AHV), einen Kassenwart und einen Schriftwart sowie zwei Beisitzer. Diese fünf Alte Herren bildeten den Altherrenausschuss, dessen Vorsitzender der AHV war. Der Ausschuss war nicht nur für die Belange des Altherrenverbandes zuständig, sondern auch in Teilbereichen für die Aktivitas, insbesondere für Kassenangelegenheiten und für die Zustimmung zur Aufnahme philistrierter Inaktiver in den Altherrenverband. Darüber hinaus gab es ein Altherrenehrengericht; hier nahm der AHV ebenfalls den Vorsitz ein, die anderen Mitglieder waren die des Altherrenausschusses. Daneben bestand der Hausbau-Verein, ein eingeschriebener Verein, der Eigentümer des Hauses war.

Johann Heinrich Vogel
(Bildrechte bei Burschenschaft Hannovera)

Im Nachruf für ihn in der Kartell-Zeitung (7. Jg., Nr. 18/19, 15. Juli 1931, S. 343 f.), wahrscheinlich von einem unserer Bundesbrüder verfasst, wird hervorgehoben, dass er ein weitherziger, weitsichtiger und aufrichtiger Burschenschafter war, der seine beiden Burschenschaften heiß und innig geliebt hat, aber auch dem Grün-weiß-roten Kartell ein treuer Berater gewesen ist. Theo Lampmann, der in seiner Geschichte der Hannovera oft sehr ausführlich über Vorkommnisse in der Aktivitas berichtet, erwähnt den Namen des AHV nur an vier Stellen. Einmal, als er (S. 367 f.) über das 75. Stiftungsfest 1923 berichtet. Dort fand eine Feierstunde statt, in der die Ehrentafel mit den Namen der im 1. Weltkrieg gefallenen Bundesbrüder im Kneipraum angebracht wurde. Bundesbruder Kurt Schmedes hielt eine Ansprache. „Darauf übergab Vogel als Vorsitzender des Altherrenverbandes die Tafel der aktiven Burschenschaft, deren Sprecher in dankerfüllter Erwiderung das Geschenk zu schützen und zu ehren versprach.“ Im Bericht von Lampmann über das Stiftungsfest folgt noch ein Ereignis, welches nicht unerwähnt bleiben soll: Nach dieser Feierstunde fand abends der Kommers statt, am nächsten Morgen folgte der Frühschoppen. „Auf diesem hielt Frau Prof. Vogel eine Gedächtnisrede, bei der sie bei atemloser Zuhörerschaft den Tod des Volkshelden Schlageter pries und zur Nacheiferung in seinem Geiste mahnte.“ Sodann auf S. 372, dass nämlich Alter Herr Professor Vogel, Berlin, Vorsitzender der Altherrenschaft ist. Schließlich ganz zum Schluss seines Buches (S. 378), als er kurz auf das 80. Stiftungsfest 1928 zu sprechen kommt, indem er mitteilt, dass der Schriftwart des Altherrenverbands, AH Rudolf Hoffmann, den Kommers geleitet hat, da der „hochverdiente Vorsitzende der Altherrenschaft, Prof. Vogel, … leider durch Erkrankung am Erscheinen verhindert gewesen war.“

Ausführlich zitiert Lampmann (S. 372 f.) lediglich aus einem Artikel des AHV in unserer Bundeszeitung von Anfang 1924. Dort beklagte Johann Heinrich Vogel, bei den jungen Bundesbrüdern sei nicht mehr der burschenschaftliche Geist zu verspüren, der die Vorfahren zusammengehalten hat. Im inneren Geistesleben der Aktivitas müsse man leider stattdessen Bequemlichkeit und Eigennutz feststellen. Dieser Artikel löste eine längere Diskussion in der Hannovera aus. Um die Verhältnisse zu klären und etwaige Missstände zu beseitigen, fuhren zu Beginn des Sommersemesters 1924 der Schriftwart des Altherrenverbandes, Rudolf Hoffmann, sowie Alter Herr Wilhelm Körner, beide aus Hannover, nach Göttingen. Auf einem Konvent sprachen sie sich mit den Aktiven gründlich aus. Sie nahmen den Eindruck mit, „dass die Aktiven den festen Willen hatten, den Bund in seinen alten burschenschaftlichen Traditionen zu festigen und zu fördern.“

Im Übrigen lässt sich aus der Geschichte von Lampmann schließen, dass AHV Vogel das Delegieren offensichtlich verstand, denn an vielen Veranstaltungen in und außerhalb von Göttingen, bei denen der Altherrenverband vertreten sein musste, übernahm nicht er, sondern ein anderer Alter Herr, auch gelegentlich einer, der nicht dem Altherrenausschuss angehörte, diese Aufgabe.

Fragt man sich also, ob Johann Heinrich Vogel als Angehöriger der Burschenschaft Hannovera ein richtiger „Grüner“ war, ist das eindeutig zu bejahen. Mit dem grün-weiß-roten Zweitband ist er in die Hannovera hineingewachsen, so dass deren Alten Herren ihm bei der Wahl zum AHV die Stimme gaben. Wenn in der Bundesgeschichte von Lampmann über seine knapp zehnjährige Tätigkeit als AHV nur wenig zu lesen ist, kann man das als positiv begreifen. Er hat nämlich insbesondere in den sehr unruhigen Zeiten zu Beginn der zwanziger Jahre die Hannovera sicher geführt.

Wissenschaftler

Johann Heinrich Vogel schloss sein Chemiestudium, in das er landwirtschaftliche Bereiche einbezogen hatte, mit der Erlangung des Dr. phil. 1887 in Göttingen ab.
Zunächst arbeite er als Assistent an einer landwirtschaftlichen Versuchsanstalt der Universität Bonn, ehe er eine ähnliche Stellung in Göttingen bekleidete. Sodann erhielt er den Auftrag, ein agrikulturchemisches Labor an der Universität Coimbra in Portugal einzurichten. 1891 wurde er Assistenz an der 1881 gegründeten Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin, an der er auch Vorlesungen hielt. Später verlieh ihm diese Hochschule den Titel Professor. 1892 übernahm er den Posten des Wissenschaftlichen Geschäftsführers der Düngerabteilung der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) in Berlin. Ab 1906 leitete er ein eigenes Forschungslabor in der Reichshauptstadt. Zugleich war er Mitarbeiter im Range eines Rates 4. Klasse der preußischen Landesanstalt für Gewässerkunde in Berlin.

Als er in der Düngerabteilung der DLG arbeitete, stellte er Versuche mit Kunstdünger und natürlichem Dünger an, somit auch mit Stallmist. Das war für ihn allerdings kein Mist im übertragenen Sinn des Wortgebrauchs, vielmehr forschte er, nicht um Stallmist und ähnliche Abfallprodukte möglichst schnell irgendwie loszuwerden, nein, um diese nutzbar zu entsorgen. Darauf deuten bereits die Titel seiner Veröffentlichungen hin, bei denen er in einigen Fällen Mitautor war (Hervorhebung mittels Fettdruck durch den Verfasser):
⦁ Schutz gegen Seuchen – ein Weck- und Mahnruf für Stadt und Land; die Unschädlichmachung von Fäkalstoffen und deren Nutzbarmachung zu Düngemitteln, Berlin: Grundmann, 1893
Die Stickstoffverluste im Stallmist und deren Verminderung, Berlin: Paul Parey, 1894
⦁ Die rationale Behandlung des Stallmistes, Vortrag gehalten in Dresden am 4. Dezember 1896, Dippoldiswalde: Jehne, 1896
Die Schicksale der Fäkalien in kanalisierten und nicht kanalisierten Städten, in: Theodor Weyl (Hrsg.): Handbuch der Hygiene, Band 2, Die Städtereinigung, Jena: Fischer, 1897
⦁ Die Beseitigung und Verwertung des Hausmülls vom hygienischen und volkswirtschaftlichen Standpunkte, Jena: Fischer, 1897
Zudem befasste sich unser Bundesbruder mit einem wenig appetitlichen Thema, der Abdeckerei, aber auch da unter ähnlichen Gesichtspunkten:
⦁ Das Abdeckerwesen, mit besonderer Berücksichtigung der derzeitigen Verwertungsverfahren, Berlin: Unger, 1897
Später forschte er darüber, wie man etwas gegen die zunehmende Versalzung der Flüsse und Seen tun konnte, die vornehmlich durch Einleitungen von salzhaltigen Abwässern der Kalibergwerke entstanden. Seine Mitarbeit in der Landesanstalt für Gewässerkunde wurde vom preußischen Staat offensichtlich nicht besonders honoriert, denn ein Rat 4. Klasse war die unterste Stufe der Rangfolge, die es gab. Aber das focht Johann Heinrich Vogel nicht an. Er stritt mutig für seine auf wissenschaftlicher Grundlage erkannten Möglichkeiten einer Verbesserung der Zustände, wie bereits die Titel entsprechender Veröffentlichungen zeigen:
⦁ Die Abwässer der Kaliindustrie: zugleich eine Kritik des im April 1913 unter dem gleichen Titel erschienenen Gutachtens von Prof. Dr. Dunbar betreffend die Versalzung der Flüsse durch Abwässer der Kaliindustrie, Berlin: Borntraeger 1914
⦁ Die Abwässer aus der Kaliindustrie, ihre Beseitigung sowie ihre Einwirkung in und an Wasserläufen, Berlin: Borntraeger, 1915
Die Frage, ob Johann Heinrich Vogel, würde er heute leben, bei BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Parteimitglied wäre, ist natürlich müßig, aber eines ist sicher: Bestimmte Zielrichtungen, die diese Partei – und nicht nur diese – vertritt, würde er unterschreiben: Natur- und Umweltschutz, Nachhaltigkeit bei der Erzeugung von Lebensmitteln, Nutzbarmachung von Abfall sowohl zur Verminderung von Seuchengefahren als auch zur Verbesserung der wirtschaftlichen Ertragslage, das sind hehre Ziele, die er hatte – und insoweit war er ein „Grüner“.

Als Exkurs ist anzumerken, dass sich ab 1900 und insbesondere nach 1918 unser Bundesbruder verstärkt mit dem Gas Acetylen befasste und hierzu seine Erkenntnisse veröffentlichte.

Henning Tegtmeyer (WS 1961/62)


(Dieser hier leicht überarbeitete Artikel wurde inhaltsgleich posthum in der Bundeszeitung der Burschenschaft Hannovera zu Göttingen, Jahrgang 109 (Neue Folge), Mai 2019, Nr. 1, Seiten 50-53, abgedruckt.)

(ks-01/2020)