Ausländische Bundesbrüder

Ausländer in der Hannovera

(Überarbeitete Fassung des Artikels aus der Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen,
Jahrgang 101 (Neue Folge), April 2011, Nr. 1, S. 36–43)

Vorbemerkung

Zu Beginn der Ausführungen muss klargestellt werden, wer bei seinem Eintritt in die Hannovera als Ausländer anzusehen ist. Das ist für unterschiedliche Zeitabschnitte differenziert zu betrachten. Hier geht es vor allem um die Zeitspanne von 1850 bis 1858, denn hauptsächlich in diesem Zeitraum sind Ausländer nach der unten gefundenen Definition Mitglieder der Hannovera geworden.

Der auf dem Wiener Kongress 1815 geschaffene Deutsche Bund umfasste anfangs 39 unterschiedliche Staaten. Es handelte sich nicht um einen Bundesstaat, sondern um einen Staatenbund, in dem jede souveräne Gebietskörperschaft ihre eigene Staatsbürgerschaft hatte. Das war bei der Gründung der Hannovera Göttingen 1848 noch so. Sieht man es unter formal-juristischen Gesichtspunkten, waren demnach alle Bundesbrüder Ausländer, die nicht dem Königreich Hannover entstammten. Dann hätte der Bund bereits im SS 1848 den ersten Ausländer aufgenommen, nämlich einen Hamburger.

Keineswegs sollte man ausschließlich darauf abstellen, nur Bürger aus Gebieten des Deutschen Bundes nicht als Ausländer anzusehen. Zum Deutschen Bund gehörten zwar alle deutschen Klein- und Mittelstaaten, auch das Fürstentum Liechtenstein sowie das Großherzogtum Luxemburg (1839 wurden die überwiegend französisch sprechenden Teile, also mehr als die Hälfte des damaligen Staatsgebietes von Luxemburg, dem Königreich Belgien zugeschlagen). Nicht zum Deutschen Bund zählten zum einen das Herzogtum Schleswig (der dänischen Krone zugehörig) und die Insel Helgoland (war damals britischer Besitz), zum anderen weite Gebiete der beiden Großmächte Preußen und Österreich, so nicht die preußischen Provinzen Posen, West- und Ostpreußen. Von den österreichischen Territorien waren die Lombardei, Venetien, Istrien, Dalmatien, Krakau, Galizien und die Bukowina nicht Mitglied im Deutschen Bund. Außerdem gehörte ihm nicht das Königreich Ungarn an einschließlich Slowakei, Siebenbürgen, Kroatien, Slawonien, Banat sowie das heute zur Republik Österreich gehörende Burgenland. Zwischen dem Wiener Kongress 1815 und dem Krieg von 1866 hat es aus dynastischen Gründen einige territoriale Veränderungen im Deutschen Bund gegeben, auf die allerdings nicht eingegangen werden kann.

Abgestellt habe ich darauf, dass grundsätzlich niemand Ausländer im Sinne der nachfolgenden Ausarbeitung ist, der aus einem Mitgliedsstaat des Deutschen Bundes kam. Einbezogen werden dabei auch das Herzogtum Schleswig sowie die drei oben genannten preußischen Provinzen. Das erfolgt mit der Einschränkung, dass Deutsch auch die Muttersprache der Betroffenen war. Lediglich auf die Kenntnis der deutschen Sprache abzustellen, erschien mir nicht angemessen, denn im Kaiserreich Österreich haben zur damaligen Zeit alle gebildeten Kreise mehr oder weniger gut deutsch gesprochen. Andererseits erscheint es mir richtig zu sein, beispielsweise Russlanddeutsche nicht als Ausländer einzustufen.

Ausländische Bundesbrüder

Als erster Ausländer wurde Angelo Christiano Reÿe im Sommersemester 1850 in die Hannovera aufgenommen. Das Album der Burschenschaft Hannovera mit handschriftlichen Eintragungen über ihre Mitglieder von 1848 bis 1861/62 enthält einen Autograf unseres Bundesbruders, der Folgendes über sich berichtete:

„1ch wurde am 14ten Dezember 1829 in Villa de St.José der Provinz Minas guerras in Brasilien geboren. Meine Eltern zogen bald nach Prados: hier war der Unterricht so borstig schlecht. daß der Alte beschloß, meinen Bruder u. mich nach Deutschland zu bringen. In meinem 8. Jahr kamen wir nach Rio de Janeiro, von wo wir nach einer 9 wöchentlichen Reise in Cuxhaven ankamen. Hier blieb ich bis zum 16. Jahre und kam dann nach Hamburg in die Apotheke. Nach dem 4. Lehrjahr ging ich nach Göttingen, um auf Wunsch des Alten Medizin zu studieren. In die Hannovera trat ich am May ein und bekam den Kneipnamen Michel.“

Ob die Familie deutsche Wurzeln hatte, ist nicht bekannt. Unser Bundesbruder setzte über dem Ypsilon in seinem Nachnamen zwei Punkte, benutzte also ein so genanntes Trema. Bei Verwendung der deutschen Sprache war das zur damaligen Zeit unüblich und ist heute nur dann erlaubt, wenn Familiennamen seit alters her so geschrieben werden. Möglicherweise sollte das Trema nur darauf hindeuten, dass der Name „Reje“ und nicht „Reie“ auszusprechen war, aber auch daraus kann man keinen Rückschluss auf die Herkunft der Familie ziehen. Auffällig ist jedoch die Schreibweise, die Angelo Christiano Reÿe für seinen Geburtsort und für die Provinz benutzte, in der sowohl der Geburtsort als auch die Ortschaft Prados liegen. Es deutet darauf hin, dass er für beide Namen eine spanische Bezeichnung wählte. Auf Portugiesisch/Brasilianisch heißt die Provinz Minas Gerais, allerdings liegt darin keine Stadt mit Namen Villa de St José. In der genannten Provinz, die etwa so groß ist wie Frankreich, gibt es jedoch neun Ortsnamen mit derBezeichnung São José, die zur Unterscheidung jeweils noch einen Zusatz haben. Meist handelt es sich auch heute noch um mehr oder weniger kleine Dörfer, nur São José de Lapa – derzeit über 17.000 Einwohner – hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung Villa verdient und ist deshalb wohl der Geburtsort unseres Bundesbruders. Meine Vermutung, dass er aus einer spanisch sprechenden Familie stammte, wird dadurch bestärkt, dass das portugiesische Alphabet kein Ypsilon kennt.

Bei der Immatrikulation von Angelo Christiano Reÿe am 27. Mai 1850 vermerkte die Universität Göttingen, dass sein Vater Kaufmann in Rio de Janeiro war.

Einige weitere Lebensdaten hat ein Annalenwart der Hannovera auf dem Blatt von Bundesbruder Reÿe vermerkt. Ostern 1854 promovierte er in Göttingen zum Dr. med. und studierte danach noch kurze Zeit in Paris. Im Sommer 1854 ging er nach Brasilien zurück und wurde in Rio de Janeiro Assistenzarzt an einem Quarantänehospital. Sodann verliert sich seine Spur – in der Grünengeschichte von Karl Römpler wird lediglich der Todeszeitpunkt mit „Ende der 60er Jahre“ angegeben.

1853 trat ein weiterer Südamerikaner in die Hannovera ein,
Isidoro Errázuriz.
Bei seiner ersten Immatrikulation in Göttingen am 16. April 1853 gab er an, sein Vater sei Landmann in Chile. In den folgenden zwei Jahren hat sich Errázuriz zwischenzeitlich exmatrikuliert, wahrscheinlich, um an einer anderen Universität sein Jurastudium fortzusetzen. Zum 1. Mai 1855 kam er an die Georgia Augusta zurück; in den Universitätsakten ist vermerkt, dass sein Vater Minenbesitzer in Chile war.

Ein Annalenwart schrieb im Album über ihn einen knappen Vermerk: „Ysidoro Errázuriz tratim Sommer 1853 in die Verbindung ein, kehrte im J. 1856 nach Santiago in Chile, seiner Heimat, zurück. Verheiratete sich im Jahre 1857, besuchte GA mit seiner jungen Frau und kehrte dann nach Amerika zurück. Wurde 1859 wegen Beteiligung an einem Aufstande in Santiago zum Tode verurteilt, dann aber zu 6 Jahren Verbannung begnadig; lebt seitdem jenseits der Anden.“ Ein anderer Verwalter des Albums fügte später hinzu: „Seit Präsident d. Republik Chile.“ Ganz so weit hat es unser Bundesbruder allerdings nicht gebracht!

Am 21. April 1835 wurde Isidoro Errázuriz in Santiago de Chile geboren. Nach Privatunterricht und Besuch des Instituto Nacional in seiner Vaterstadt studierte er an der Jesuiten-Universität in Georgetown bei Washington und erwarb hier den Grad eines Baccalaureus der Philosophischen Fakultät. Danach nahm er Sprachunterricht in Hamburg und begann anschließend das Jurastudium in Göttingen, welches er mit dem Dr. jur. abschloss. In seine Heimat zurückgekehrt, war er zunächst Rechtsanwalt und schrieb für verschiedene Zeitungen. Er schloss sich einer liberalen Partei an. 1859 gab es in Chile Unruhen. Inwieweit Isidoro Errázuriz daran beteiligt war, ist ebenso ungewiss wie die Verurteilung zum Tode. Die Zeitung, die unser Bundesbruder herausbrachte, war der konservativen Regierung jedenfalls ein Dorn im Auge. Sie wurde verboten und Errázuriz zu sechs Jahren Verbannung verurteilt. Er zog nach Mendoza (Argentinien), arbeitete hier für die „Konstitutionelle Zeitung“ und war sogar zeitweise Richter an einem argentinischen Gericht. 1861 erfolgte seine Begnadigung. Nach Chile zurückgekehrt, betätigte er sich weiterhin als Journalist und gab verschiedene Zeitungen heraus. Bald wandte er sich allerdings aktiv der Politik zu und war zwischen 1867 und 1884 fast ununterbrochen Abgeordneter im chilenischen Parlament bzw. Senator der Republik Chile. Im für Chile siegreichen so genannten Salpeterkrieg (1879 bis 1884) nahm er als Regierungsvertreter an verschiedenen Schlachten gegen die Peruaner und Bolivianer teil. Von 1887 bis 1889 war unser Bundesbruder für die chilenische Regierung in Paris tätig, um die Einwanderung von Europäern in sein Heimatland zu forcieren. 1889 wurde er chilenischer Justiz- und Bildungsminister. Im Bürgerkrieg von 1891 stand er auf der Seite der Revolutionäre und kämpfte für die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems. Nach siegreichem Ausgang der Revolution übernahm Isidoro Errázuriz in den folgenden zwei Jahren in rascher Reihenfolge die Leitung unterschiedlicher Ressorts. So war er – manchmal auch gleichzeitig – Minister für Industrialisierung und öffentliche Arbeiten, sodann Außenminister, Justizminister und wiederum Minister für Industrialisierung, darüber hinaus stellvertretender Kriegs- und Marineminister, Justizminister, Kultusminister und abermals Minister für Industrialisierung. Von 1893 bis 1896 erfolgte eine etwas weniger hektische Amtszeit als Kriegs- und Marineminister. Sodann ernannte ihn die Republik Chile zum Botschafter in Brasilien. Er verstarb am 18. März 1898 in Rio de Janeiro. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass unser Bundesbruder neben seiner politischen und journalistischen Tätigkeit immer wieder Zeit fand, größere Abhandlungen über die Geschichte Chiles zu verfassen und Gedichte zu schreiben.

Im SS 1854 trat Morris Jesurun in die Hannovera ein. Bei seiner Immatrikulation am 26. Mai 1854 legte er ein Schulzeugnis aus Hamburg vor und gab an, dass sein Vater Kaufmann in Curaçao in Westindien war. Wenige Tage später, nämlich am 13. Juni 1854, schrieb sich Abram Jesurun in Göttingen ebenfalls als Medizinstudent ein. Er hatte bereits in Berlin studiert und verwies auf das Abgangszeugnis der dortigen Universität. Auch bei ihm steht als Berufsangabe des Vaters „Kaufmann in Curaçao in Westindien“. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass beide Studenten Brüder waren, jedoch hat sich nur der wahrscheinlich jüngere von ihnen der Hannovera angeschlossen. In unserem Album trug ein Annalenwart einen kurzen Vermerk ein: „Arzt in Curaçao (Westindien).“ Den Todeszeitpunkt gibt Karl Römpler mit „Anfang der 90er Jahre“ an.

Henry Bradfort Nason wurde am 22. Juni 1831 in Foxborough (Massachusetts/ USA) geboren. 1855 wurde er durch die University of Massachusetts in Amherst graduiert. Anschließend begab er sich nach Göttingen und immatrikulierte sich am 23. Oktober 1855. Während seines Chemie- und Geologiestudiums, welches er mit dem Dr. phil. 1857 abschloss, verkehrte er offensichtlich häufig bei der Hannovera. Diese ernannte ihn ihm Wintersemester 1856/56 zum Ehrenmitglied. Nason verbrachte nach seinem Studium in Göttingen noch einige Zeit bei dem Chemiker Robert Bunsen in Heidelberg sowie bei dem Hüttenkundler Carl Friedrich Plattner in Freiberg, ehe er 1858 in die USA zurückkehrte.

Zunächst erhielt er dort eine Stelle als Dozent für Naturgeschichte am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy (Bundesstaat New York), wurde aber bald darauf Professor für Chemie und Naturwissenschaften an der University of Wisconsin in Beloit. In den folgenden Jahren war er zeitweilig an beiden Hochschulen tätig, ehe er ab 1868 nur noch in Troy die Fächer Chemie und Mineralogie vertrat. Seine Betätigung im Hochschulbereich ließ ihm so viel Zeit, dass er weite Studienreisen unternehmen konnte. Er betrieb geologische Erkundigungen in den Südstaaten der USA und in Kalifornien. Außerdem reiste er noch mehrfach nach Europa. 1861 besuchte er Holland, Belgien, Irland und Schottland und kam danach abermals nach Göttingen. Am 16. Oktober 1861 immatrikulierte er sich an der Georgia Augusta erneut, um seine Kenntnisse in Mineralogie bei Professor Freiherr von Waltershausen zu vertiefen. Im Anschluss daran besichtigte er Gletscher in der Schweiz und vulkanische Gebiete in Italien. Im Sommer 1877 durchstreifte er Teile vom Finnland und Russland auf der Suche nach Materialien für ein großes botanisches Werk. 1884 besuchte er die norwegischen Fjorde und Gletscher. Eine besondere Europareise ergab sich für unseren Bundesbruder 1878, als US-Präsident Hayes ihn beauftragte, in Paris auf der Weltausstellung festzustellen, ob dort chemisch-technische Neuheiten gezeigt wurden, die für die amerikanische industrielle Entwicklung von Bedeutung sein konnten.

Im Laufe der Jahre verlegte Henry B. Nason seine Forschungstätigkeit immer stärker auf das Gebiet der Petrochemie und veröffentlichte diesbezügliche Erkenntnisse. Fast 15 Jahre war er Berater der Standart Oil Co. Er war Mitglied in einer Reihe von wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereinigungen zur Förderung der Industrie, so im Amerikanischen Verein zur Förderung der Wissenschaften, in der Gesellschaft der Chemischen Industrie, im Amerikanischen Institut der Bergbauingenieure, in der Amerikanischen Chemischen Gesellschaft (deren Präsident er 1889/90 war) sowie in der New Yorker Gesellschaft der Wissenschaft. Darüber hinaus gehörte er zu den Gründern der Geologischen Gesellschaft von Amerika. Außerdem war Nason Mitglied der Deutschen Chemischen Gesellschaft und der Chemischen Gesellschaft in London.

In amerikanischen Biografien werden Nasons pädagogische Fähigkeiten gelobt, durch die es ihm leicht gelang, seinen Studenten das erforderliche Wissen zu vermitteln. Vielleicht deshalb hat sich das Rensselaer Polytechnic Institute in Troy veranlasst gesehen, einem Studentenwohnheim für Erstsemestrige auf dem Campus seinen Namen zu geben.

Trotz seiner nur kurzen Zeit in Göttingen und der großen Entfernung von seinem jeweiligen Wohnsitz hierher hielt unser Bundesbruder das ihm verliehene grün-weiß-rote Band lebenslang in Ehren. Er war Mitglied der VaB New York und nahm an burschenschaftlichen Feierlichkeiten teil, die diese in Nordamerika veranstaltete. – Henry Bradfort Nason starb am 17. Januar 1895 in Troy.

Ein weiterer Ausländer in der Hannovera war
Gustav (Gustaw) Ritter von Piotrowski (d. Ältere).
Er wurde am 1. März 1833 in Tarnow in Galizien (Österreich) geboren. Sein Vater, ein polnischer Rechtsanwalt und Gutsbesitzer, verstarb früh. Seine Mutter, eine Italienerin, erzog ihn – wie in Polski Słownik Biograficzny von 1981, Band 25, S. 469 zu lesen ist – zum Italiener. Nach Schulbesuch in Wien und Tarnow studierte er von 1851 bis 1856 Medizin in Wien. Anschließend war er kurze Zeit am physiologischen Institut der Universität Krakau tätig, bis er bei dem Physiologen Ernst Wilhelm Ritter von Brücke in Wien 1857 promovierte.

Um selbst Physiologe zu werden, beschloss er, seine Kenntnisse in Chemie und Physik zu vertiefen. Zunächst ging er nach Göttingen und immatrikulierte sich hier am 24. Oktober 1857. Er war zuerst Assistent bei dem Chemiker Friedrich Wöhler und im Anschluss daran bei dem Physiker Wilhelm Weber. In dieser Zeit lernte er die Hannovera kennen und verkehrte offensichtlich bei ihr, so dass man ihm Michaelis 1858 anlässlich seines Wechsels nach Heidelberg das Ehrenband verlieh. Dort hatte er wie vordem unser Bundesbruder Nason eine AssistentensteIle bei dem Chemiker Robert Bunsen; anschließend war er einige Zeit bei dem Physiker Hermann Helmholtz tätig.

Nach der Habilitation wurde Piotrowski 1859 an der Universität Krakau a. o. Professor. Ab 1860 bis zu seinem Tode am 31. Dezember 1884 war er dort ordentlicher Professor für Physiologie. In dieser Zeit übernahm er sechsmal das Amt des Dekans der Medizinischen Fakultät; darüber hinaus war er Angehöriger der Landesprüfungskommission für Ärzte. Zeitweilig gehörte er auch der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät an. 1873/74 war er Rektor der Jagiellonen- Universität Krakau und von Amts wegen als deren Repräsentant Mitglied des Landtages des Königreichs Galizien; in diesem Gremium stand ihm eine Virilstimme (Einzelstimme) zu. Außerden wurde er in die der Gesellschall der Wissenschaften sowie in die Landwirtschaftsgesellschaft in Krakau berufen und bekleidete zudem das Amt des Kurators der Landwirtschaftlichen Oberschule Czernichow in der Nähe von Krakau. Obwohl er auch einige wissenschaftliche Artikel aus dem Bereich der Experimentalphysik (einen z. B. zusammen mit Helmholtz) publizierte, galt der Schwerpunkt seiner Forschertätigkeit der Physiologie, zumal es ihm 1868 gelungen war, ein neues Institut für Physiologie an der Universität Krakau zu errichten. Seine Forschungsergebnisse veröffentlichte er teils in Deutsch (beispielsweise in den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften in Wien), teils in Polnisch. Eine von ihm entdeckte Eiweißkörperreaktion wurde später nach ihm „Piotrowski-Reaktion“ genannt. 1864 erschien sein Handbuch „Grundriss der menschlichen Physiologie“ in polnischer Sprache.

Auch in der Politik war unser Bundesbruder tätig, aller Wahrscheinlichkeit nach mehr seinen Standesverpflichtungen folgend denn seinen persönlichen Ambitionen. Als Gutsbesitzer im Wahlkreis Tarnow wurde er 1870 für vier Jahre in den Sjem (Landtag) von Galizien in Lemberg gewählt. Von 1870 bis 1873 war er zugleich gewähltes Mitglied des Reichsrates in Wien.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass im WS 1872/73 stud. phil A. Poppe aus Valparaiso (Chile) in die Hannovera eintrat, sie jedoch bald wieder verließ. Es ist nicht sicher, ob er überhaupt Ausländer in Sinne der oben stehenden Definition war. Im WS 1876/77 wurde stud. rer. nat. K. von Falaky aus Böny in Ungarn Mitglied er Hannovera. Auch er trat alsbald wieder aus. Er war über Jahrzehnte hinweg er letzte Ausländer, der der Hannovera abgehörte.

Im WS 1963/64 trat stud. med. dent. Göran Hampf in die Hannovera ein, blieb jedoch nicht lange in unseren Reihen. Er war finnischer Staatsbürger; seine Muttersprache war allerdings Schwedisch. Wegen seines Eintritts entstanden unserem Bund keinerlei Schwierigkeiten mit der Deutschen Burschenschaft, denn Göran Hampf hatte eine deutsche Großmutter, und das reichte im Sinne des damals vertretenen volkstumsbezogenen Vaterlandsbegriffs, damit er aktiv werden konnte.

Schlussfolgerungen

Bei ihrer Gründung 1848 betrachtete sich die Hannovera als Progressverbindung, d. h. sie neigte wie viele andere neue studentische Vereinigungen aus jener Zeit hinsichtlich ihrer Ziele der Progressbewegung zu. Diese entstand ab 1840 vornehmlich an deutschen Hochschulen und war von den alten burschenschaftlichen Vorstellungen von 1815 deutlich abgerückt. Zwar war das Streben nach einem einheitlichen deutschen Staat auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung nicht völlig aus den Augen verloren. aber doch in den Hintergrund getreten. Das Interesse ging in erster Linie dahin, die Hochschulen und die Studentenschaft zu reformieren.

Karl Römpler berichtet in seiner Grünengeschichte auf S. 26 f., dass 1851 auf einer Studentenversammlung in Eisenach mit Unterstützung der Hannovera ein Antrag abgelehnt wurde, wonach eine Gruppierung von Progressverbindungen ein „deutsch-vaterländisches Prinzip“ einführen wollte. Auf S. 44 zitiert er in seiner Bundesgeschichte einen Abriss von Bundesbruder Wilhelm Wagner (später Augenarzt in Odessa) über Leben und Treiben der Hannovera in den Jahren nach 1856, und zwar u. a. damit, dass es in der Verbindung zwei Lager gegeben habe. Der größere Teil der Bundesbrüder gehörte zu den progressiv Angehauchten, der kleinere zu den „Altburschenschaftlichen“. Bis 1859 habe es jedoch im Bund zwischen beiden Gruppen keine Misshelligkeiten gegeben. Ab 1861 – vgl. Karl Römpler, S. 70 – änderten sich die Verhältnisse in der Hannovera: Die burschenschaftlich ausgerichteten Bundesbrüder waren in der Mehrheit und setzten durch, dass die Verbindung sich fortan bewusst Burschenschaft nannte und burschenschaftliche Ziele übernahm. Trotzdem war es bis zum WS 1876/77 offensichtlich problemlos möglich, Ausländer aufzunehmen. Voraussetzung für den Eintritt war demnach, dass der Student von seiner Geisteshaltung und seinem Charakter her gesehen in die Verbindung passte.

Wie der dargestellte Werdegang der zwischen 1850 und 1858 aufgenommenen ausländischen Bundesbrüder zeigt, gibt es keine grundsätzlichen Besonderheiten zu Mitgliedern der Verbindung, die als Deutsche zu bezeichnen sind. Alle haben während ihrer Zeit in Göttingen am Bundesleben teilgenommen. Dass nach ihrem Abgang von der Universität sich die Bindungen an die Hannovera lockerten, trifft keineswegs nur auf einige Ausländer zu, obwohl es insoweit eher verständlich wäre wegen der großen Entfernung nach Göttingen sowie dem Stand der damaligen Reisemöglichkeiten und Kommunikationsmittel. Bemerkenswert ist, dass die Hannovera Ende der fünfziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts eine so attraktive Verbindung war. dass sich ältere Semester. die ihr Studium bereits abgeschlossen hatten (Nason und Piotrowski) und in Göttingen ihre Kenntnisse auf Fachgebieten ausweiten wollten, bei ihr verkehrten und sich zu der Gemeinschaft hingezogen fühlten. Die Ernennung grade dieser Bundesbrüder zu Ehrenmitgliedern gereicht der Hannovera zur Ehre.

Deutsche Universitäten und somit auch Göttingen erfreuten sich um 1850 in Süd- bzw. Mittelamerika eines so guten Rufes, dass begüterte Familien ihre Kinder hierher schickten, damit diese eine solide Ausbildung erhielten. Dabei ist keineswegs sicher, dass alte Universitäten wie beispielsweise Coimbra in Portugal, Salamanca in Spanien oder Leiden in den Niederlanden nicht über entsprechende Ausbildungskapazitäten verfügten. Möglicherweise gab es eine gewisse Abneigung gegen die Kolonialherren bzw. die frühere Kolonialmacht, aber dennoch: Für die nach Deutschland geschickten Kinder und Jugendlichen ergaben sich zusätzliche Schwierigkeiten, denn sie mussten über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, ehe sie ein Studium beginnen konnten.

Henning Tegtmeyer (WS 1961/62)