Jüdische Bundesbrüder

Hannovera Göttingen und ihre jüdischen Bundesbrüder

(Überarbeitete Fassung des Artikels aus der Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 98 (Neue Folge), April 2008, Nr. 1, S. 29–36, der als Vortrag gedacht war)

Wer sich dem Thema „Hannovera Göttingen und ihre jüdischen Bundesbrüder“ nähert, sieht sich alsbald mit einem ganz wesentlichen Problem konfrontiert: Wir feiern in diesem Jahr das 160. Stiftungsfest, d. h. die ältesten Bundesbrüder sind vor etwa 180 Jahren geboren. Bei der Hannovera war es nie üblich, die Glaubenszugehörigkeit ihrer Mitglieder aktenkundig zu machen; früher wurde noch nicht einmal der Geburtsort festgehalten. Selbst wenn dieser feststeht, ist es nicht immer möglich, präzise Auskünfte zu erhalten, denn Kirchenbücher, standesamtliche Unterlagen oder Archive haben zum Teil durch Kriegsereignisse oder aus anderen Gründen gelitten. Deshalb kann ich beim besten Willen nicht sagen, wie viele jüdische Mitglieder die Hannovera insgesamt gehabt hat. Ausreichende biografische Daten habe ich nur von sechs jüdischen Bundesbrüdern; es gab aber ganz bestimmt mehr. Die nachfolgend aufgeführten Angehörigen der Hannovera hatten alle die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedsstaates des Deutschen Bundes und erhielten nach 1871 zusätzlich die Staatsangehörigkeit des Deutschen Reiches.

Beginnen möchte ich mit Theodor Stern, der mosaischen Glaubens war und nur kurze Zeit der Aktivitas angehörte. In dem Album der Burschenschaft Hannovera mit handschriftlichen Eintragungen über ihre Mitglieder aus den Jahren 1848 bis 1861/62 steht u. a., dass er 1858 zu Mitte des Sommersemesters in die Hannovera eintrat und „deren Wohltaten nur zwei Monate lang genoss“, ehe er auf Wunsch seines Vaters nach Brüssel ging, um sich dem Kaufmannsstande zu widmen. Wie das mit der Kaufmannslehre ausging, ist nicht bekannt, aber mit etwa 35 Jahren war unser Bundesbruder Inhaber des Bankhauses Jacob S. H. Stern in Frankfurt am Main¹.



In den Mitgliederverzeichnissen, die sowohl Römpler[9] als auch Lampmann[10] ihrer Bundesgeschichte anfügten, wird für das Wintersemester 1870/71 ein Bundesbruder mit ganz wenigen Daten aufgeführt: „A. Nathan aus Horneburg, Dr. med., gestorben 1882“. Da es mindestens zwei Ortschaften mit dem Namen Horneburg gibt und nicht sicher war, ob der Hinweis „aus Horneburg“ sich auf den Geburtsort bezog, hatte ich wenig Hoffnung, als ich eine Anfrage an die Samtgemeinde Horneburg in der Nähe von Stade richtete. Aber manchmal muss man einfach Glück haben. Postwendend erhielt ich die Nachricht, man habe mein Schreiben, mein Einverständnis vorausgesetzt, an einen Amateurhistoriker abgegeben, der sich mit der früheren Synagogengemeinde in Horneburg befasse. Adolf Nathan war mosaischen Glaubens, hatte am Domgymnasium Verden bis 1869 die Schule besucht; anschließend wechselte er auf das Lyceum in Hannover. Nach Kriegsausbruch 1870 meldete er sich freiwillig zu einem privatrechtlich organisierteten Krankenpflegedienst und war vier Monate in Frankreich tätig. Im September 1871 bestand er als Externer das Maturitätsexamen in Verden, begann danach sein Medizinstudium in Göttingen und trat der Burschenschaft Hannovera bei. Zum Sommersemester 1874 wechselte er nach Leipzig, wo er am 27.07.1874 das Testamen physicum ablegte. Anschließend erfolgte ein weiterer Wechsel an die Universität Kiel. Dort beendete er sein Studium mit der Promotion zum Dr. med.[11]  Entsprechend den damaligen Gepflogenheiten wurde die ärztliche Staatsprüfung nicht am Universitätsort von einem Professorenkollegium abgenommen, sondern von einer staatlichen Kommission, die für ihn in Hannover, der Hauptstadt der preußischen Provinz Hannover, ihren Sitz hatte. Das Schicksal meinte es nicht gut mit Adolf Nathan: Er konnte sich der ärztlichen Staatsprüfung nicht mehr stellen, denn er verstarb, noch nicht einmal 26 Jahre alt, an seinem Geburtsort. Die Todesursache lautete Halsschwindsucht.

Ebenfalls in relativ jungen Jahren ist unser Bundesbruder Erich Mosen von uns gegangen. Ehe wir uns mit ihm beschäftigen, müssen wir uns mit seinem Vater Julius Mosen[12] befassen, weil an seinen Lebensentscheidungen beispielhaft deutlich wird, wie sich Juden im 19. Jahrhundert in Deutschland zu assimilieren versuchten. Der Vater wurde 1803 im Vogtland als Julius Moses geboren. Er entstammte einer jüdischen Familie aus Prag, aber seine Vorfahren waren bereits zum christlichen Glauben konvertiert[13]. Er bezog nach dem Abitur in Plauen die Universität Jena, um dort Jura zu studieren, und schloss sich der Burschenschaft Germania an. Ab 1834 war Julius Moses Rechtsanwalt in Dresden, aber diese Tätigkeit war nicht das, was ihm Freude bereitete. Er dichtete mit viel Erfolg. Dramen, Novellen und Gedichte entstammten seiner Feder, u. a. das Lied vom Sandwirt Andreas Hofer „Zu Mantua in Banden“, was nicht nur bei Burschenschaften mit Begeisterung gesungen wird, sondern auch die Landeshymne von Tirol ist. Julius Moses meinte offensichtlich, dass sein Nachname auf seine jüdische Abstammung hindeuten würde. Deshalb änderte er ihn mit ministerieller Erlaubnis des Königreichs Sachsen 1844. Aus dem „s“ am Ende des Namens wurde ein „n“, d.h. er hieß von da ab Mosen. In diesem Jahr erhielt er eine Berufung als Dramaturg an das Hoftheater in Oldenburg. Die Vaterlandsliebe, die demokratische Grundhaltung und die Sympathie für die freiheitlichen Bestrebungen jener Zeit übertrug Julius Mosen auf seine Söhne Erich und Reinhard, die noch in Dresden geboren wurden, aber in Oldenburg aufwuchsen. Beide studierten in Jena und traten in die Germania ein. Der Ältere, Erich Mosen, war aller Wahrscheinlichkeit nach entweder vor oder während des Jurastudiums seiner Militärdienstpflicht in Oldenburg nachgekommen. Als der so genannte Deutsche Krieg 1866 ausbrach, eilte er sofort zu seinem Infanterieregiment in Oldenburg und nahm am Mainfeldzug teil. Nach Kriegsende wurde er befördert. Anschließend studierte er weiter in Berlin und danach an der Georgia Augusta, verkehrte bei der Hannovera und wurde unser Ehrenmitglied. 1870 war Erich Mosen Gerichtsreferendar in Oldenburg. Bei Kriegsausbruch war er erneut zur Stelle und zog mit seinem Regiment nach Lothringen. Am Morgen des 16. August 1870 fiel er als Vizefeldwebel bei dem Dorf Vionville in der Schlacht bei Mars-la-Tour. Unser Bundesbruder Erich Mosen gehört zu den beiden Kriegstoten von 1870/71, die die Hannovera zu beklagen hatte. Er hat sein Leben hingegeben in der Hoffnung auf die Einheit Deutschlands, die er nicht mehr erleben durfte.

Wenden wir uns nun Ferdinand Frensdorff zu, der 1833 in Hannover geboren wurde.[14] Er entstammte einer Rabbiner- und Kaufmannsfamilie, trat aber zum evangelischen Glauben über. Nach dem Jurastudium in Heidelberg, Göttingen, Berlin und Leipzig – der Hannovera trat er im WS 1854/55 bei und bekleidete im WS 1855/56 das Amt des Zweitchargierten[15] – schlug er die wissenschaftliche Laufbahn ein und wurde 1873 in Göttingen Ordinarius für Deutsches Recht und Öffentliches Recht. Seine Forschungsgebiete waren das niederdeutsche Stadtrecht und Rechtsangelegenheiten im Bereich der Hanse. Auch Biografien großer Juristen sowie gedruckte Reden auf die Universität liegen von ihm vor. Er gehörte der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen an und war im WS 1882/83 Rektor der Georgia Augusta. Auf dem Kommers anlässlich des 50. Stiftungsfestes der Hannovera ergriff Alter Herr Frensdorff das Wort, als schon etliche Reden auf Kaiser und Vaterland sowie auf die Hannovera und die Deutsche Burschenschaft gehalten waren, der Landesvater bereits vorüber war und man sich im inoffiziellen Teil befand.[16] Er bemängelte, dass keiner der Redner der Alma mater gedacht hätte. Leider habe sich auch bei der Hannovera ein Zeitgeist eingeschlichen, der von der Universitas litterarum nichts wissen wolle. Dieser mahnende Hinweis ist 1898 ausgesprochen worden, also 70 Jahre vor 1968! Unser Bundesbruder Frensdorff ist übrigens sehr alt geworden, nämlich fast 98 Jahre. Er starb 1931, musste also nicht mehr erleben, was studentischer Pöbel in braunen Uniformen nach 1933 unter Billigung der neuen Machthaber alles anstellte mit Hochschullehrern jüdischer Abstammung.

Ein weiterer jüdischer Bundesbruder war Richard Witting, der 1856 als Richard Witkowski in Berlin geboren wurde. Als solcher wurde er 1876 Grüner Hannoveraner.[17] Kurze Zeit danach nahmen die meisten Mitglieder der Familie den Namen Witting an und konvertierten zum evangelischen Glauben. Einer seiner Brüder behielt seinen Nachnamen und wurde später Professor für Germanistik in Leipzig; ein anderer Bruder nannte sich fortan Maximilian Harden und war ein streitbarer Journalist in der Kaiserzeit. Nach dem Assessorexamen trat Richard Witting zur Kommunalverwaltung über. Von 1891 bis 1903 war er Oberbürgermeister von Posen; von Amts wegen gehörte er dem Preußischen Herrenhaus an. Bei seinem Ausscheiden aus dem Kommunaldienst verlieh ihm Kaiser Wilhelm II. den ehrenvollen Titel „Geheimer Regierungsrat“. Er wurde Direktor der Nationalbank für Deutschland AG; ab 1907 war er für knapp zwei Jahre Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.[18]

Ich komme nochmals auf Richard Witting zurück, möchte mich jedoch zunächst Sally Friedländer zuwenden. Dieser wurde 1855 in Westpreußen geboren und war mosaischen Glaubens. Nach dem Abitur in Bromberg studierte er zunächst in Berlin, dann in Göttingen. Im WS 1874/75 trat er in die Hannovera ein. Er war ein begeisterter Aktiver und bekleidete über drei Semester eine Charge: Schriftwart, Sprecher und Fechtwart.[19] Sein Jurastudium schloss er ebenso wie die Referendarzeit in Berlin ab; dort promovierte er auch. 1883 ließ er sich in Potsdam als Rechtsanwalt nieder, 1890 wurde er Notar, 1902 erhielt er den Titel Justizrat. Von 1893 bis zu seinem Tode 1909 gehörte er der Stadtverordnetenversammlung an. Er war Mitglied zahlreicher Ausschüsse, die zeitweilig bestanden, so zur Einführung des elektrischen Lichts, zur Erweiterung der Kläranlage, zur Vorbereitung des Bebauungsplanes der Berliner Vorstadt und für Besoldungsangelegenheiten der Lehrer. In einem ehrenden Nachruf bezeichnete ihn der damalige Oberbürgermeister als einen „Mann von klugem Kopf und weitem Herzen“.

Diesem Alten Herrn wurde 1906 seitens der Aktivitas eine ungeheuerliche Kränkung zuteil. Er fragte bei dem Altherrenvorsitzenden Römpler an, ob es möglich sei, dass sein Sohn, der ebenfalls mosaischen Glaubens war, aktiv werden könne. Sally Friedländer selbst gab zu bedenken, seit geraumen Jahren sei kein Student jüdischer Konfession mehr Mitglied in der Deutschen Burschenschaft geworden. Er wolle weder die Hannovera in Schwierigkeiten bringen noch solle sein Sohn nur geduldet werden oder irgendwelchen Demütigungen ausgesetzt sein.[20] Der AHV leitete die Anfrage an die Aktivitas weiter und verwies darauf, dass sowohl Sally Friedländer als auch zwei andere jüdische Bundesbrüder reges Interesse am Bund zeigten. Er meinte, er müsse die Entscheidung in die Hände der Aktiven legen, denn diese würden besser als die Alten Herren die gegenwärtigen Strömungen in der Deutschen Burschenschaft kennen. Die Aktivitas ihrerseits teilte dem Altherrenvorsitzenden den einhelligen Konventsbeschluss mit, ein Student jüdischer Abstammung könne nicht aktiv werden. Der AHV übermittelte Alten Herrn Friedländer den Beschluss der Aktiven in etwas abgemilderter Form. Dieser nahm die Entscheidung mit großer Verbitterung entgegen und bat den AHV, seine Antwort der Aktivitas bekannt zu geben. Er äußerte sich wie folgt:[21]

„Die Aufnahme ist meinem Sohn nach der mir vorliegenden Erklärung wegen seiner jüdischen Abstammung, nicht wegen seines jüdischen Glaubens verweigert worden. Hiergegen muss ich mit aller mir zu Gebote stehenden Entschiedenheit Verwahrung einlegen. Mein Sohn stammt von mir ab, und wenn diese seine Abstammung ihm einen Makel anheftet so ist dies eine Beschimpfung, welche Ihr mir antut! Ich bin aber würdig und fähig gewesen, Mitglied der Hannovera zu werden und zu bleiben. Ich habe alle Ämter und Ehren, welche die Burschenschaft zu vergeben hat, bekleidet und, wie ich ohne Überhebung sagen darf, in jeder Beziehung tadellos ausgefüllt. Ich bin berufen gewesen, die Ehre der Hannovera innerhalb und außerhalb Göttingens zu vertreten und meine Haut für sie zu Markte zu tragen, was ich gern und freudig getan habe. Ich bin Beamter meines Staates[22], mit Titeln und Würden ausgestattet, wie er sie an seine Bürger zu vergeben hat, bin angesehener Bürger meiner Stadt, in deren Ehrendienst ich seit langen Jahren stehe. Ihr aber wollt mir durch Euren Beschluss attestieren, dass die Abstammung von mir meinem Sohn einen Makel anheftet, der ihn unfähig und unwürdig macht, in die Burschenschaft aufgenommen zu werden? Ihr dünkt Euch berufen, und berechtigt, über Gesetz und Verfassung Euch hinweg zu setzen, welche die Gleichberechtigung aller Konfessionen gewährleisten, Euer Urteil über die Würdigung meiner Persönlichkeit durch die Staatsbehörden und durch meine Mitbürger zu stellen? Nehmt Ihr eine andere oder gar höhere Moral und Ethik für Euch in Anspruch? Und habt Ihr gar nicht bedacht, dass Euer Beschluss einen Vorwurf schwerster Art für die Hannovera selbst bedeutet, die mich in ihren Verband aufgenommen und beibehalten hat?“

Die Ausführungen von Sally Friedländer sind zutreffend, denn er legte sehr deutlich und überzeugend dar, warum für ihn der Beschluss der Aktivitas völlig unakzeptabel war. Auch sonst verhielt er sich bemerkenswert, denn er trat nicht aus. Vielmehr wollte er das grün-weiß-rote Band bis zu seinem Tode im Ehren weiter tragen, weil er es zu einer Zeit erworben habe, als man in der Hannovera noch nichts von dem tief beschämenden Rassenhass wusste, der sich nunmehr in der Deutschen Burschenschaft bemerkbar mache. Allerdings zog er seine Beteiligung an der Kasse der Altherrenschaft zurück. Der AHV übersandte das Schreiben der Aktivitas. Diese nahm den Inhalt von Friedländers Brief auf Römplers Vorschlag einfach zur Kenntnis. Damit war die Angelegenheit formal erledigt.

Lampmann, der ein Jahr nach dem Vorfall in die Hannovera eintrat und aller Wahrscheinlichkeit schon zu seiner Aktivenzeit etwas davon mitbekommen hatte, gibt 1928 in seiner Geschichte der Hannovera eine Erklärung, wie es zu der Entscheidung der Aktivitas gekommen war.[23] Im WS 1902/03 wurde die Hannovera von der Universität Göttingen bis zum Semesterschluss suspendiert. Aktivitas und Altherrenausschuss fassten daraufhin einen wundersamen Beschluss: Die Aktivitas sollte erst wieder aufgemacht werden, wenn die hohen Schulden abgetragen seien. Das zog sich bis 1906 hin. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Hannovera aus eigener Kraft nicht wieder erstehen. Die Kartellburschenschaften Germania Jena und Frankonia Heidelberg erklärten sich dankenswerterweise bereit, Unterstützungsburschen zu schicken. Ende des Sommersemesters 1906 gab es wieder eine Aktivitas – ihr gehörten acht frühere Jenenser Germanen und ein Inaktiver der Hannovera an, der sich für den Rest des Semesters erneut aktiv gemeldet hatte. Für Lampmann war daher klar – und das ist auch einsichtig -, dass die neue Aktivitas der Hannovera, die zunächst beinahe gänzlich aus ehemaligen Kartellbrüdern aus Jena bestand, die Ansicht vertrat, die bei Germania Jena vorherrschend war. Diese hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Aufgabe liberaler Prinzipien, die noch 30 Jahre vorher gegolten hatten, eine antisemitische Haltung eingenommen wie viele andere Korporationen auch.[24]

Ferdinand Frensdorff und Richard Witting, die beiden anderen jüdischen Alten Herren der Hannovera, sind zu jener Zeit nicht ausgetreten; der Letztgenannte hat sich sogar eifrig um seine Hannovera gekümmert. Die antisemitischen Strömungen, die in unserer Aktivitas 1906 hervorgetreten waren, hielten nicht an. Generell waren ähnliche Tendenzen in den Altherrenschaften der Deutschen Burschenschaften längst nicht so stark vertreten wie in manchen Aktivitates. So hat Richard Witting 1911 auf dem Reichsgründungskommers der Vereinigung alter Burschenschafter zu Berlin, einer zentralen burschenschaftlichen Veranstaltung in Deutschland, die Rede auf die Deutsche Burschenschaft gehalten.[25] Auch 1913 bei unserem 65. Stiftungsfest hielt er die Ansprache auf unseren Bund.[26] Darüber hinaus war Richard Witting die treibende Kraft bei der Gründung des Hausbauvereins der Grünen Hannoveraner zu Göttingen.[27] Am 29. Juli 1908 erwarb der Hausbauverein das Hausgrundstück Herzberger Chaussee 9 für 42.500 Mark. Da einerseits noch Umbauarbeiten notwendig waren, Gebühren anfielen und Mobiliar beschafft werden musste, andererseits nicht alle Stammanteile sowie zugesagte Gutscheine termingerecht bezahlt waren – mit der Zahlungsmoral stand es bei der lieben Hannovera auch damals nicht allseits zum Besten -, erklärte Alter Herr Witting sich bereit, den fehlenden Betrag von 10.000 Mark zu spenden. Das lehnte der Hausbauverein ab mit der Begründung, man dürfe nicht gegenüber einem einzelnen Bundesbruder in eine zu große Dankesschuld geraten. Man nahm eine zusätzliche Hypothek auf. Richard Witting verstarb 1923.

Bald nach 1933 konnte der damalige Altherrenvorsitzende auf Anfrage burschenschaftlichen oder anderen Stellen mitteilen, der Hannovera gehörten keine jüdischen Mitglieder an. Wie wir uns verhalten hätten, wenn es anders gewesen wäre – es lohnt nicht, darüber Mutmaßungen anzustellen.

Abschließend kann ich Folgendes feststellen: Die Hannovera war seit alters her eine liberale Verbindung, die keine antisemitischen Tendenzen kannte. Dabei ist allerdings nicht auszuschließen, dass einzelne Bundesbrüder eine Abneigung gegenüber Juden hatten. Die Entscheidung der Aktivitas im Jahre 1906 war eine einmalige, wenngleich äußerst peinliche Angelegenheit. Die jüdischen Mitglieder der Hannovera – wenn man sie einmal als Gruppe betrachtet – unterscheiden sich nicht von den anderen Bundesbrüdern. Einige sind früh verstorben, etliche haben gute oder sogar hervorragende berufliche Positionen erreicht. Manche von ihnen waren zeit ihres Lebens begeisterte Hannoveraner. Ich jedenfalls bin froh, einem liberalen Bund anzugehören, und ich wünsche meiner lieben Hannovera, dass das auch in Zukunft so bleibt.


¹ Helge Dvorak: Biographisches Lexikon der Deutschen Burschenschaft, Band I: Politiker, Teilband 5: R – S, Heidelberg, Universitätsverlag C. Winter, 2002, S. 516 f.
² Ralf Roth: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main, München, Oldenbourg Verlag, 1996, S. 574 f.
³ Paul Arnsberg: Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Band III, Darmstadt, Eduard Roether Verlag, 1983, S. 539 f.
[4] Siegbert Wolf: Studien zur Frankfurter Geschichte, Frankfurt am Main, Verlag Waldemar Kramer, 1987, S. 225.
[5] Arno Lustiger: Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main, Sigmaringen, Jan Thorbecke Verlag, 1994, S. 68.
[6] Wolfgand Klötzer: Frankfurter Biographie, 2. Band: M – Z, Frankfurt am Main, Verlag Waldemar Kramer, 1996, S. 433.
[7] Karl Maly: Die Macht der Honorationen, Frankfurt am Main, Verlag Waldemar Kramer, 1992, S. 130 und S. 389.
[8] Paul Arnsberg: a.a.O., Band II. S. 294.
[9] Carl Römpler: Versuch einer Geschichte der Burschenschaft Hannovera zu Göttingen, Göttingen, Dieterich, 1897, S. 220.
[10] Theo Lampmann: Geschichte der Burschenschaft Hannovera-Göttingen seit Anfang der neunziger Jahre bis 1928, Hannover, C. V. Engelhard & Co., 1928, S. 398.
[11] Adolf Nathan: Über die Bedeutung des Natron salicylicum als Antipyretium, med. Dissertation, Kiel, Schriften der Universität zu Kiel aus dem Jahre 1873, Bd. XXII, Kiel: C. F. Mohr, 1873, Nr. 17, Seite 31 (Lebenslauf).
[12] Detlev Storz: Julius Mosen und Deutschlands vergessene Freiheit, Burschenschaftliche Blätter, 2001 (Heft 3), S. 104 ff.
[13] Die bei Abfassung des Artikels 2008 dargelegte Auffassung, dass Julius Moses zunächst mosaischen Glaubens war und 1844 konvertierte – was vielfach in wissenschaftlichen Veröffentlichungen behauptet wurde -, wird nicht mehr aufrecht erhalten.
[14] Neue Deutsche Biographie, 5. Band, Berlin, Duncker und Humblod, 1960, S. 402.
[15] Carl Römpler: a.a.O., S. 198.
[16] Theo Lampmann: a.a.O., S. 70.
[17] Henning Tegtmeyer: Richard Witting – Oberbürgermeister, Bankdirektor, Politiker, Bundesbruder, Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 89 (Neue Folge), 1999, Nr. 2, S. 32 ff.
[18] Helge Dvorak: a.a.O., Teilband 6: T – Z, 2005, S. 335.
[19] Carl Römpler: a.a.O., S. 200.
[20] Theo Lampmann: a.a.O., S. 113 f.
[21] Theo Lampmann: a.a.O., S. 115 f.
[22] Durch diesen Hinweis wollte Friedländer wahrscheinlich auf seine Tätigkeit als Notar hinweisen.
[23] Theo Lampmann: a.a.O., S. 115.
[24] Bernhard Schroeter: Leben und Streben dem Vaterland, Die Geschichte der Burschenschaft Germania zu Jena, Teil 2, Von 1887 bis 1995, Band 1: Kaiserzeit, Weimarer Republik und Drittes Reich, Göttingen, KDW-Verlag, 1996, S. 40 ff.
[25] Hans Zielinski/Friedjof Kubsch: 100 Jahre Vereinigung alter Burschenschafter zu Berlin, Festschrift, 1981, S. 46.
[26] Theo Lampmann: a.a.O., S. 160.
[27] Theo Lampmann: a.a.O., S. 165 ff.

1. Nachtrag

Meine im vorstehenden Artikel angedeutete Vermutung hat sich bestätigt, denn es gibt zumindest noch einen weiteren jüdischen Bundesbruder in der Hannovera, nämlich Bernhard Eduard Stern, der 1835 in Frankfurt am Main geboren wurde. Nach dem Abitur in seiner Vaterstadt bezog er als stud. med. im Sommersemester 1853 die Universität Göttingen und trat in die Hannovera ein. Sein gesamtes Studium verbrachte er an der Georgia Augusta und schloss dies 1856 mit der Promotion zum Dr. med. ab. Danach war er zunächst Assistenzarzt in Wien. 1857 ließ er sich als praktischer Arzt und Wundarzt in Frankfurt am Main nieder¹. Dort war er alsbald ein sehr gesuchter Arzt².


¹ Henry George Richter-Hallgarten: Die Beteiligung jüdischer Ärzte an der Entwicklung der Dermatologie zu einem eigenständigen Fach in Frankfurt am Main, Münchener medizinische Dissertation, 2013, S. 131 f.
² Wilhelm Kallmorgen: Siebenhundert Jahre Heilkunde in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Verlag Moritz Diesterweg, 1936, S. 423.

2. Nachtrag

Ende 2016 gab es die Gewissheit, dass noch ein weiterer Bundesbruder jüdischer Konfession der Hannovera angehört hat: Dr. med. Max Arensberg. Die Mitgliederverzeichnisse, die unsere Bundesbrüder Römpler [1] und Lampmann [2] ihren Bundesgeschichten beigefügt haben, enthalten nur wenige personenbezogene Angaben über ihn. Einen weiterführenden Hinweis ergab sich aus dem Matrikelverzeichnis der Universität Göttingen[3]. Max Arensberg hat sich am 30.04.1888 als stud. med. an der Georgia Augusta immatrikuliert und dabei das Abiturzeugnis eines Gymnasiums in Detmold vorgelegt sowie angegeben, sein Vater sei praktischer Arzt in Detmold.

Er wechselte zunächst nach Würzburg und schrieb sich dann am 10.04.1891 als stud. med. in Leipzig ein. Danach bestand er nach dem Wintersemester 1892/93 die ärztliche Staatsprüfung; im Januar 1894 promovierte er in Leipzig zum Dr. med. [8]. Einige Einzelheiten aus seinem Leben, welches keine außergewöhnlichen Ereignisse aufweist, ergeben sich aus Adressbüchern der Stadt Detmold, aus dem Amtsblatt der Stadt Detmold sowie aus Anzeigen in der Lippischen Zeitung. 1897 [9] wohnten Dr. med. Seligmann Arensberg und sein Sohn, der praktische Arzt Dr. med. Max Arensberg zusammen in Detmold, Wall 1, und betrieben dort gemeinsam eine ärztliche Praxis. Kurz vor der Jahrhundertwende oder Anfang 1901 haben Max Arensberg und Ida Arensberg geborene Dreyer geheiratet: seine Ehefrau, ebenfalls jüdischer Konfession, ist am 17.09.1875 in Österwiehe (Kreis Wiedenbrück) [10] geboren. Im Amtsblatt von Detmold [11] wurde bekannt gemacht, dass für die Ehe der Allgemeine Güterstand nach dem zum 01.01.1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuch vereinbart worden war. Aus dieser Ehe entstammen zwei Söhne, Hans (geboren am 13.12.1901 in Detmold) sowie Kurt (geboren am 02.01.1908 in Detmold) [12]. Anfang April 1901 verstarb Dr. med. Seligmann Arensberg [13], dem vor seinem Tod der Titel Sanitätsrat verliehen worden war. Im Adressbuch [14] ist von nun an neben Max Arensberg seine Mutter als Sanitätsratswitwe verzeichnet; sie starb im Januar 1918 [15]. Letztmalig findet man etwas über Dr. med. Max Arensberg im 1920 erschienenen Adressbuch [16]. Er ist am 01.09.1920 in Detmold gestorben.

In den zeitlich nachfolgenden Adressbüchern ab 1923 [17] ist Ida Arensberg als Arztwitwe verzeichnet, wohnhaft Wall 1. Solche Eintragungen enden mit dem Adressbuch von 1938 [18]. Im folgenden Adressbuch für das Jahr 1940/41 fehlt ihr Name [19]; als Bewohner des Hauses Wall 1 werden nunmehr ein Zahnarzt und ein Stadtbaurat genannt. Gleichwohl wohnte Ida Arensberg [20] noch einige Zeit in Detmold und war beim Einwohnermeldeamt Detmold registriert: ab 02.10.1939 Freiligrathstraße 13 und vom 04.02.1942 bis zum 28.07.1942 in dem so genannten Judenhaus Gartenstraße 6. In der Einwohnermeldekartei ist zum letztgenannten Datum eingetragen: “Abgemeldet nach Theresienstadt“. Diese Handhabungen sind typische Perversionen der öffentlichen Verwaltung des NS-Staates. Zum einen wollte man nicht wahrhaben, dass es noch Juden in der Stadt gab, zum anderen ist die „Abmeldung“ ein zynischer Versuch, die zwangsweise Deportation einer Person in das Ghetto Theresienstadt zu verschleiern.

Am 28.07.1942 wurden die letzten Juden aus Detmold zunächst nach Bielefeld transportiert; drei Tage später startete vom dortigen Güterbahnhof aus der Transport Nr. XI/1, mit dem die letzten 79 Juden, die noch im Land Lippe lebten, in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurden. Zu ihnen gehörte die sechsundsechzigjährige Ida Arensberg. In Theresienstadt blieb sie nicht lange. Am 23.09.1942 wurde der Transport Bq zusammengestellt, der sie mit zahlreichen Inhaftierten aus Theresienstadt nach Treblinka verbrachte. Ida Arensberg hat das Kriegsende nicht erlebt, sie wurde ermordet, wahrscheinlich in Treblinka, jedoch gehen einige Quellen davon aus, sie sei in Auschwitz oder in dem Vernichtungslager Maly Trostinec bei Minsk (Weißrussland) umgebracht worden.

1948 wurde Ida Arensberg vom Amtsgericht Detmold für tot erklärt, das amtliche Todesdatum auf den 8. Mai 1945 festgesetzt. In den folgenden Jahren haben ihre Söhne, die Deutschland rechtzeitig verlassen hatten, erfolgreich auf Rückerstattung des Hausgrundstückes Wall 1 in Detmold sowie auf Ersatz von Bankguthaben und Wertpapieren geklagt [21] – Hans Arensberg war inzwischen Kaufmann in Montevideo (Uruguay), sein Bruder Kurt Arensberg Kaufmann in Santiago de Chile.

Auf einer Steintafel mit Namen der Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in Detmold 1933 – 1945, welche sich auf der Gedenkstätte an der Alten Synagoge in Detmold, Externstraße, befindet, ist der Name Ida Arensberg geborene Dreyer verzeichnet.

[1] Carl Römpler: Versuch einer Geschichte der Burschenschaft Hannovera zu Göttingen, Göttingen, Dieterichs, 1897, S. 224 führt für das Sommersemester 1888 lediglich an: „M. Arensberg, Dr. med., Arzt das.“.
[2] Theo Lampmann: Geschichte der Burschenschaft Hannovera-Göttingen seit Anfang der neunziger Jahre bis 1928, Hannover, C. V. Engelhard & Co., 1928, S. 401 ergänzt diesen Hinweis: „ † 1. September 1920.“.
[3] Wilhelm Ebel (Hrsg.): Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1827 – 1900, Hildesheim, Verlag August Lax, 1974, S. 637 (Nr. 63978).
[4] Adressbuch der Residenzstadt Detmold 1884, Detmold, Verlag der Hinrichs’schen Hofdruckerei, 1884, S. 1.
[5] Schreiben des Staatsarchivs Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen-Lippe vom 13.12.2016 – OWL 3 – 5.3.0.-3187/2016 mit Kopie aus dem Judenregisters der Stadt Horn (Quelle: LAV NRW OWL, P 2 Nr. 5).
[6] Carl Römpler: a.a.O., S. 183 f.
[7] Jens Bleckers, Gerhard Wiemers (Hrsg.): Die Matrikel der Universität Leipzig. Die Jahre 1884 bis 1892, Teilband V, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2010, S. 445, Nr. 0843
[8] Universitätsarchiv Leipzig: Promotionen aller Fakultäten von 1810 bis 1991, Digitale Datenbank
[9] Adressbuch der Residenzstadt Detmold 1897, Detmold, Verlag der Hinrichs’schen Hofdruckerei, 1897, S. 2.
[10] Gudrun Mitschke-Buchholz: Gedenkbuch für die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in Detmold, Bielefeld, Verlag für Religionsgeschichte, 2001, S. 27 mit Biografie von Ida Arensberg.
[11] Amtsblatt von Detmold vom 03.07.1901, vgl. Gudrun Mitschke-Buchholz: a.a.O., FN 2.
[12] Gudrun Mitschke-Buchholz: a.a.O.
[13] Lippische Zeitung vom 06.04.1900, Todesanzeige, vgl. Gudrun Mitschke-Buchholz: a.a.O., FN 3.
[14] Adressbuch der Residenzstadt Detmold 1904, Detmold, Verlag von Hans Hinrichs, 1904, S. 6.
[15] Lippische Zeitung vom 21.01.1918, Todesanzeige, vgl. Gudrun Mitschke-Buchholz: a.a.O., FN 5.
[16] Adressbuch der Landeshauptstadt Detmold 1920, Detmold, Meyersche Hofbuchhandlung (Max Staercke), 1920, S. 4 u. 125.
[17] Adressbuch der Landeshauptstadt Detmold 1923, a.a.O., 1923, S. 80.
[18] Einwohner der Stadt Detmold 1938, Detmold, Meyersche Hofbuchhandlung, (Verlag Dr. Catharine Staercke), 1938, S. 13.
[19] Einwohner der Stadt Detmold 1940/41, Detmold, a.a.O., 1940/41, S. 233.
[20] Gudrun Mitschke-Buchholz: a.a.O., (zugleich auch für die weiteren Daten zu dieser Biografie), vgl. auch S.18.
[21] Schreiben des Staatsarchivs Nordrhein-Westfalen, Abteilung Ostwestfalen Lippe vom 13.12.2016 – OWL 3 – 5.3.0. – 3187/2016 unter Bezugnahme auf die dort vorhandenen Aktenbestände D 20 B Nr. 3494 u. D 20 B Nr. 3716.


Henning Tegtmeyer (WS 1961/62)



(ks 01/2020)