Herr von Bismarck und die Burschenschaft

Kürzlich hörte ich bei einer Führung auf dem Haus einer bekannten Göttinger Burschenschaft, wie einer großen Besuchergruppe fremder Gäste voller Überzeugung mit fester Stimme die Information zuteil wurde, Bismarck sei Gast auf eben jenem Burschenhaus gewesen, habe da in der kleinen Kneipe am Runden Tisch gesessen und darum hinge dort auch sein Bild.

Als ich nach einem ersten kurzen Gedanken an einen Scherz zurückhaltend nachfragte, wurde mir bedeutet, Zweifel könne es nicht geben, es sei eine Tatsache, das hätte schon vor Jahren der Fuxmajor der Burschenschaft so gelehrt.

Ich habe aber heute doch die Bitte an Euch alle: glaubt solchen Sagen nicht und tragt sie auch nicht weiter. Das ganze ist als Anekdote zu platt, als Tatsache leicht widerlegbar und völliger Unfug.

Macht Euch nicht in der Öffentlichkeit lächerlich. Gleichgültig, was ein Fuxmajor mal geirrt und gelehrt haben mag, Ihr seid als geschichtskundige Leser nicht frei davon, selbst zu prüfen und nachzudenken.

Otto von Bismarck ist am 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Hamburg gestorben.
Das Haus in der Herzberger Chaussee wurde im Juli 1908 für die Verbindung gekauft, danach umgebaut und eingerichtet und am 24. Oktober 1908 bei einer Einweihungsfeier der aktiven Burschenschaft übergeben.
Bismarck war also bereits mehr als zehn Jahre tot, als das Haus von den Burschen bezogen wurde.
Soweit dazu.

Darüber hinaus muss jeder Kenner deutscher Studenten- und Universitätsgeschichte ein Gefühl entwickeln, das ihn zusammen mit seinen grundlegenden Geschichtskenntnissen bei dem Inhalt der obengenannten Information aufmerken lässt.
Bismarck auf dem Haus einer Burschenschaft?
Passt das?
Nein!

Otto von Bismarck war väterlicherseits alten altmärkischen Adels, konservativ und standesbewusst.
Er schloss sich bei seinem Studium, besser wohl Aufenthalt, in Göttingen einem Corps an.
Später, als Reichskanzler, hat er den Stand des Reiches nach außen gesichert; Demokratie, Einheit und Gleichstellung nach innen waren für ihn utopische Vorstellungen; das alles ist ihm fremd gewesen; revolutionären Ideen bürgerlicher Burschenschaften wie Gleichheit und Freiheit konnte er nichts abgewinnen. „Den demokratischen Tendenzen seiner Zeit stand er verständnislos gegenüber; politische Opposition galt ihm als reichsfeindlich“ (Zit.).
Seiner Verbindung hat er gleichwohl nicht viel Freude bereitet, ist in Göttingen eher negativ aufgefallen und wohl auch ausgeschlossen worden. Als später erfolgreichem Staatsman erinnerte man sich seiner corpsseitig wieder; die Zuneigung soll aber einseitig geblieben sein, Bismarck hat sie nicht erwidert. Es wird berichtet, er habe, als er als Kanzler mit dem Zug durch den göttinger Bahnhof fuhr und die frühere Verbindung ihm auf dem Perron Zuneigung darbieten wollte, an seinem Abteil demonstrativ die Vorhänge zugezogen. Wenn sich ein göttinger Corps heute mit ihm schmückt, trägt das Züge anbiedernder Geschichtsfälschung.
Burschenschafter haben es nicht nötig, sich an Bismarck ranzuschmeißen. Das mögen andere tun.

Noch eine Überlegung: Um die damalige Jahrhundertwende wird es wohl kaum gesellschaftlichen Verkehr zwischen Burschenschaften und Corps gegeben haben. Man war sich fremd; auf Abgrenzung innerhalb der Studentenschaft bedachter, hochmütiger Adel, der auf Häusern vornehm feiernd oder pöbelnd unter sich und seinesgleichen blieb, auf der einen Seite, und demokratisch verfasste, bürgerlich liberale Burschenschaften, die mit ihren Werten Ehre, Freiheit, Vaterland, mit der Pflicht des Einzelnen, für das Ganze einzutreten, mit den Forderungen nach Solidarität deutscher und europäischer Ethnien, nach deutscher Einheit und einer einzigen verfassten Studentenschaft, nach individuellen Freiheitsrechten und staatsbürgerlicher Verantwortung strebten, auf der anderen Seite.

Die fortschrittliche Burschenschaft ist Bismarck zu seinen Studienzeiten weit voraus gewesen.
Später kreuzten sich beider Wege kurz, als Bismarck einem Anspruch der Burschenschaft folgte. Er hat sich dem burschenschaftlichen Ideal deutscher Einheit genähert und in einer kleindeutschen Lösung den anderen europäischen Mächten gegenüber die Einigung zum Teil erreicht. Das allein ist der Grund, warum sein Bild auf Burschenhäusern hängt.

Der endgültigen Verwirklichung dieses burschenschaftlichen Traumes harren die Deutschen noch, wenn auch durch europäische Einigung das Ziel eines großen deutschen Vaterlandes zunehmend in seiner Bedeutung gemindert wird.

Der Burschenschaft fühlte Bismarck sich verbunden. In „Gedanken und Erinnerungen“ ging er auf seine Zugehörigkeit zum Corps nicht ein, erwähnte hingegen seine Beziehung zur Burschenschaft: „Meine geschichtlichen Sympathien waren auf Seiten der Autorität. […] Doch blieb mein deutsches Nationalgefühl so stark, daß ich im Anfang der Universitätszeit zunächst zur Burschenschaft in Beziehung gerieht, welche die Pflege des nationalen Gefühls als ihren Zweck bezeichnete. Aber bei persönlicher Bekanntschaft mit ihren Mitgliedern mißfielen mir ihre Weigerung, Satisfaction zu geben, und ihr Mangel an äußerlicher Erziehung und an Formen der guten Gesellschaft, bei näherer Bekanntschaft auch die Extravaganz ihrer politischen Auffassungen […]. Ich hatte den Eindruck einer Verbindung von Utopie und Mangel an Erziehung.“
Als Bismarck im Jahr 1895 eine Abordnung der Deutschen Burschenschaft empfing, revidierte er seine Einschätzung aus studentischen Tagen: „Ich bin bei der ersten Berührung mit der Burschenschaft, wie ich zur Universität kam, von dem Vorurteil der Corpsburschen im allgemeinen geleitet worden. Außerdem war es Zufall, daß ich gerade mit Burschenschaftern in Berührung kam, die den gesellschaftlichen Schliff nicht hatten, den ich von Berlin her gewohnt war, und daher meine Ablehnung […].“


Kai Schröder (WS 1975/76)

(Artikel aus dem Jahr 1999)
(Nachgedruckt in der Bundeszeitung der Burschenschaft Hannovera Göttingen,
Jahrgang 111 (Neue Folge), November 2021, Nr. 2, S. 32-34)


(ks-12/2021)