Franz Overbeck

„Sein Kneipname war Struwwelpeter“
Franz Overbeck (1837 – 1905)
und das Ende von Theologie und Christentum

„Franz Overbeck. Sohn des Kaufmanns F. Overbeck aus Frankfurt am Main. Geboren zu Petersburg am 16. Nov 1837, verbrachte ebendaselbst seine 8 ersten Lebensjahre. Die zwei folgenden sahen ihn in Paris. Der 28. Febr 1848 vertrieb mit dem Könige Ludwig Philipp auch ihn aus Frankreich. Die Bewegungsjahre 1848-50 wurden in aller Ruhe wieder in Russland verbracht, bis die Familie Overbeck nach Dresden übersiedelte. Franz reifte auf der Kreuzschule zur Universität heran und trat Ostern 1856 seine Studienzeit zu Leipzig als Beflissener der Gottesgelahrtheit an. In diesem schauderhaft langweiligen Neste hielt er es jedoch nicht länger als 1 Jahr aus. Ostern 1857 ging ihm ein neues Leben auf, als er auf der Georgia Augusta die Fortsetzung seiner Studien begann. Er trat am 13. Mai 1857 in die Hannovera. Durch sie ist ihm die Georgia Augusta ein Aufenthaltsort geworden, dessen er stets in Liebe gedenken wird. Leider muss er ihn jetzt verlassen, nachdem er noch ein Semester der Hannovera als 2. Chargirter vostand, um nach dem schon oben charakterisirten Leipzig zurückzukehren und daselbst seine Studien zu beschliessen… Sein Kneipname war Struwwelpeter.“

Soweit eine der wohl ältesten erhaltenen handschriftlichen Äußerungen des großen evangelischen Theologen Franz Camille Overbeck. Sie liegt vor in einem offensichtlich seit vielen Jahren im Kellerarchiv unseres Hauses einsam sein Dasein fristenden und seiner dringend notwendigen Aufarbeitung harrenden, mit „Album“ überschriebenen Buch, in das sich alle Bundesbrüder, die von 1848-62 aktiv waren, mit einem kurzen, größtenteils in der 3. Person abgefaßten Lebenslauf eingetragen haben. Als ich dieses einmalige, der Fachwelt natürlich (noch) unbekannte Dokument einem unter anderem auf Overbeck spezialisierten Professor zeigte, war dieser darüber ebenso begeistert, wie ich es war, als ich wenige Tage zuvor bei einem Rundgang durch die Große Kneipe zufällig das Couleurbild Overbecks entdeckte und mir bewußt wurde, daß dieser bedeutende Gelehrte ein Grüner Hannoveraner war.

Daß Franz Overbeck immer im Schatten der anderen großen Theologen des späten 19. Jahrhunderts gestanden und erst in den letzten Jahrzehnten die ihm als eigenständigem Denker gebührende Aufmerksamkeit in Theologie und Philosophie gewonnen hat (der erste Band einer insgesamt auf neun Bände angelegten Gesamtausgabe seiner Schriften erschien erst 1994), ist ungerecht, kommt aber nicht von ungefähr: Auch zu seinen Lebzeiten war er bekannt nur in der Gelehrtenwelt. Hier galt er als ein Mann von vornehmster Gesinnung, unbestechlicher Wahrhaftigkeit und profunder Gelehrsamkeit; die konsequent kritische Haltung seiner wissenschaftlichen Arbeiten war zugleich geachtet und gefürchtet. Ansonsten aber vermochte man ihn in keine theologische Schule recht einzuordnen, und seinen grundsätzlichen Anfragen an die Theologie stand man hilflos gegenüber. Bekannter als er waren seine Freunde: der große Historiker und „Herold der Reichsgründung“ Heinrich von Treitschke (den er übrigens über das damals bestehende „Weiße Kartell“ mit der Frankonia Bonn kennenlernte) und vor allem Friedrich Nietzsche. Im Gegensatz zu Nietzsche hat Overbeck nie den Ruhm gesucht; die Popularität des Gelehrten war ihm zuwider, und die Popularisierungsversuche der Theologie seiner Zeit erschienen ihm als „der Anfang aller Barbarei“ (C 101). Und so ist es nicht verwunderlich, daß er, bis das Interesse an seiner Person neu erwachte, in der Theologie- und Philosophiegeschichte zwar nie vergessen (war), aber meistens doch nur als „Freund Nietzsches“ eine Würdigung erfahren hat.

Wer war dieser außergewöhnliche Mann, und welcher Art sind seine Gedanken, daß sie ihm schließlich das polemische, aber, wie wir noch sehen werden, auch verständliche Urteil eingebracht haben, „ein radikaler Gegner und bitterer Verächter des Christentums“ zu sein und „als Theologe des Nietzsche-Kreises seine historisch-kritische Kennerschaft zur vollkommenen Vernichtung des Christentums zu verwenden“ (Ernst Troeltsch)?

Da wir ihn über seine Kindheits- und Jugendjahre oben schon selbst haben berichten lassen, kann ich mich für diesen Zeitraum auf einige Ergänzungen beschränken. Ungewöhnlich für einen deutschen protestantischen Gelehrten ist Overbecks Herkunft: Sein Vater war ein Kaufmann deutscher Abstammung, englischer Nationalität und lutherischer Konfession, seine Mutter eine katholische Französin, die wie bereits ihre Eltern in Rußland geboren wurde. In Petersburg wuchs Overbeck zunächst polyglott auf; mit der Amme und den Hausangestellten sprach er russisch, mit den Eltern französisch, mit der väterlichen Großmutter deutsch und im Bekanntenkreis englisch. Als er im Sommer 1850 mit dem Eintritt in die Kreuzschule in Dresden sein „Schulodyssee“ beschloß, war er „bald 13 Jahr alt und hatte noch keine Muttersprache, oder die, die ich hatte, war doch nicht die Sprache meiner Schule“ (SB 107).

Zu Ostern 1856 begann er in Leipzig das Studium der Theologie. Es war ein „Knabengedanke“, Pastor zu werden, „nie etwas anderes als ein alter Knabentraum“, sollte er später sagen, „… für einen christlichen Geistlichen (habe ich) nie den geringsten Beruf gehabt“ (SB 154). Das Theologiestudium war ernüchternd: „Für meine theologische Entwicklung trug ich als eigentliches Resultat meines ersten Studienjahres in Leipzig davon 1) den Verlust des Rests meines Kinderglaubens; 2) die Durchdrungenheit davon, daß ich mit dem bisher gehegten Ideal einer Pfarrwirksamkeit nicht auskommen werde. Anfang 1857 legte ich die Gewohnheit des täglichen Abendgebets vor dem Einschlafen, das ich stets bis dahin im Bette knieend verrichtet hatte, ab, schließlich aus Ekel an einem Act, bei dem ich immer mehr selbst ‚abwesend‘ und nicht letzlich betheiligt zu sein empfand“ (SB 122). Auch was sein wissenschaftliches Vorankommen betraf, war Overbeck mit seinem ersten Studienjahr in Leipzig unzufrieden, und er beschloß, seine Studien anderswo fortzusetzen. Seine Wahl fiel auf Göttingen, und zwar einerseits aufgrund der „meinem rationalistischen Sinne zusagende(n) allgemeine(n) Vorstellung, die ich von Göttingen als einer besonders nüchtern gelehrten und mit Lehrmitteln reich ausgestatteten Universität hatte“, und andererseits aufgrund der begeisterten Briefe, die ihm ein ehemaliger, nun in Göttingen studierender Schulkamerad „über die Freuden, die er in einem Studentenverein, dem er beigetreten sei, finde“, geschrieben hatte (SB 121f). Doch auch in bezug auf seine Zeit an der Georgia Augusta schreibt Overbeck 43 Jahre später: „(Meine) Göttinger Zeit (ist) für die Entwickelung meiner Theologie vorzüglich gewesen. Das Positivste, was dabei herausgekommen ist, ist noch die Kräftigung meiner Abneigung gegen alle dogmatische Theologie in den langweiligen und mir trotz eifrigen Absitzens und Nachschreibens vollkommen unfaßlich und unfruchtbar gebliebenen Vorlesungen von Dorner (des zu jener Zeit berühmtesten Göttinger Theologen; Vf.) … gewesen.“ Und er fährt fort: „Für meine persönliche Entwickelung ist damals jedenfalls viel wichtiger gewesen als die Tatsache, daß ich in Göttingen als stud. theol. eingeschrieben war, mein Eintritt in die damal. Progreßverbindung der Grünen Hannoveraner im Mai 1857, und wäre es auch nur dadurch, daß er meine spätere Freundschaft mit Treitschke vorbereitete. Doch hätte ich auch sonst, sind mir aus den fröhlichen Tagen im genannten Verein keine tiefer in mein Leben eingreifenden Freundschaftsverhältnisse erwachsen, noch mancherlei von diesen Tagen zu erzählen, was ich noch in dankbarer Erinnerung zu tragen Ursache habe. Nur etwas, was die Verbesserung meiner Beziehungen zur Theologie beträfe, … käme auf keinen Fall zur Sprache. Was diese Beziehungen betrifft, so hat vielmehr auch mein Verhältnis zur Hannovera nur meine Entfremdung von theologischen Interessen gefördert und fördern können. Dergleichen lag der Verbindung vollkommen fern, in der ich überhaupt drei Semester lang als Theologe allein stand und erst im vierten und letzten meiner Göttinger Periode einen Studiengenossen neben mir hatte, dem ich zudem persönlich nicht näher getreten bin“ (SB 125f).

Daß die in der Hannovera erlebte Geselligkeit für Overbeck in Göttingen offensichtlich wichtiger war als die Theologie, geht auch aus einer Bemerkung Carl Albrecht Bernoullis, eines guten Freundes Overbecks, hervor. Dieser schreibt 1908 in seinem Buch „Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft“: Overbeck „war bekannt für die Hartnäckigkeit, mit dem er in dem Refrain der ‚alten Burschenherrlichkeit‘ mit ‚Schrumm‘ zwischen das ‚0 jerum‘ fuhr oder in der ‚blühenden goldenen Zeit‘ mit ‚Rosen‘ nachklappte, unbeirrt durch jedes Propoena, – wie er auch, ebenso unverbesserlich, zu einer Bierrede verdonnert, unter allgemeinem Protest – weil er keine Stimme hatte – einen Solokantus zum besten gab, da er lieber singe als spreche!“

Nach seiner Göttinger Zeit kehrte Overbeck nach Leipzig zurück, legte dort das erste theologische Examen ab und promovierte zum Dr. phil. 1864 habilitierte er sich in Jena für neutestamentliche Exegese und ältere Kirchengeschichte, 1870 nahm er einen Ruf nach Basel an. Nach Basel, das bedeute „aus Deutschland heraus – dabei empfinde ich wirklich, wie es dem Fisch sein muß, der auf den Strand geworfen wird“, schreibt Overbeck in einem Brief an Treitschke. Seine Hoffnung, einmal nach Deutschland zurückzukehren, sollte sich nicht erfüllen; er blieb bis zu seinem Lebensende in Basel, 27 Jahre als Professor, 8 Jahre im Ruhestand. Später nannte er Basel dankbar „das Asyl für meine ‚Theologie'“ (C 168).

Neben dem Übergang aus dem „Paradies“ des Privatdozententums in das Lehrer-sein-Müssen brachte Basel für Overbeck vor allem die Freundschaft mit Nietzsche. Als Kollegen an der Universität und „Wandnachbarn“ im selben Haus lernten sie sich in einem „vierjährigen Contubernium“ immer besser kennen. Den Stoff zu ihren „kaum stockenden Gesprächen“ beim gemeinsamen Abendessen gab kaum die Theologie als vielmehr die aus der Ferne beobachteten „grossen Vorgänge in Deutschland“ (C 15).

Verglichen mit dem weiteren Schicksal Nietzsches verlief Overbecks Professorendasein in Basel ruhig und normal. Sein Lehrerfolg jedoch hielt sich an äußeren Zahlen gemessen in Grenzen; gelegentlich fiel eine Vorlesung oder Übung wegen fehlender Hörer aus. Wie berichtet wird, pflegte Overbeck seine Vorlesungen Satz für Satz, ohne aufzublicken oder abzusetzen, monoton mit leiser Stimme abzulesen. Einige wachere Studenten schätzten freilich seine verhaltene Hingabe an die Sache und ahnten wohl auch, daß diesen Mann ein Geheimnis umwitterte, das er in seinen Kathedervorträgen nicht zu lüften bereit war.

Die theologische Grundüberzeugung, die Overbeck am Ende seines Lebens in aller Radikalität vertrat, hat sich in seiner Basler Zeit erst allmählich entwickelt. Im folgenden soll versucht werden, diese Entwicklungslinie in ihren wesentlichen Zügen nachzuzeichnen.

Wie Overbeck sein Amt auffaßte und was er zunächst als sein Thema ansah, klingt in seiner Basler Antrittsvorlesung „Über Entstehung und Recht einer rein historischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie“ unüberhörbar an. Rein historisch, das heiße „auf keinen anderen Voraussetzungen als denen der allgemeinen historischen Wissenschaft beruhend“. „Wer einen Text wissenschaftlich betrachtet, welcher Art dieser Text auch sei, – die Satiren des Petronius oder das vierte Evangelium, hat vor allen Dingen sich in Zucht zu nehmen, d. h. es gibt für wissenschaftliche Exegese keinen Unterschied heiliger und unheiliger Texte. Alle sind gleichen Schutzes gegen die Attentate ungewaschener Subjektivität ihrer Ausleger bedürftig und würdig. Das vergißt niemand mehr als die Theologie, … und keine Theologie mehr als die moderne“. Allerdings weist Overbeck der Theologie hier neben der historischen Aufgabe auch noch die „moralische Aufgabe“ zu, „die innere Harmonie zwischen unserem Glauben und unserem wissenschaftlichen Bewußtsein herzustellen“. Mit dieser Überzeugung bewegt er sich 1870 noch ganz in den Bahnen der zu seiner Zeit alles beherrschenden, im wesentlichen von Albrecht Ritschl begründeten und von dessen Schülern fortgeführten Theologie kulturprotestantischer Prägung, die sich darum bemühte, das Christentum mit dem Kulturleben, den Glauben mit dem bürgerlichen Zeitgeist zu versöhnen.

Das ändert sich aber schon drei Jahre später grundlegend. In dem Buch „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ ist von der „moralischen Aufgabe“ der Theologie, eine Synthese zwischen Glauben und Wissen herzustellen, nicht mehr die Rede. Overbeck geht nun vielmehr davon aus, daß „der Antagonismus des Glaubens und des Wissens … ein beständiger und durchaus unversöhnlicher“ sei (C 22). Glauben und Wissen, Christentum und Kultur, Christentum und Theologie sind schlechthin unvereinbare Gegensätze. Durch das Wissen fallen die wesentlichen Stützen des Glaubens dahin und deshalb ist „das Thun jeder Theologie, sofern sie den Glauben mit dem Wissen in Berührung bringt, ein irreligiöses“ (C 25). Ursprünglich ist das Christentum in diese Welt getreten „mit der Ankündigung ihres demnächst geschehenden Unterganges“. Weltverneinung und Askese waren seine Kennzeichen, weshalb es weder eine „irdische Geschichte“ noch eine „Theologie“ zu erwarten gehabt hätte (C 27). Doch es kam bekanntlich anders. Die Welt blieb bestehen, das Christentum trat in die Geschichte ein und wollte sich, um bestehen bleiben zu können, „mit seiner Theologie auch den Weisen der Welt empfehlen“, genau dadurch ist aber „die Theologie nichts anderes als ein Stück der Verweltlichung des Christenthums“ geworden (C 33f) und stellt es so „überhaupt in Frage“ (C 35). Weil alle Theologie sich notwendig vom Christentum, welches ihr zum wissenschaftlichen Problem wird, emanzipiert, eben darum ist sie „auch stets die natürliche Verrätherin des Christentums gewesen“ (C 217). Sie kann nur der Totengräber des Glauben sein.

Es dürfte deutlich sein, daß Overbeck mit diesen Sätzen der Ritschl-Schule und ihrem Bestreben, das Christentum für die Moderne zu retten, eine radikale Absage erteilte. Eigentlich hätten sich Ritschl und seine Schüler zum stärksten Widerspruch gegen Overbeck herausgefordert sehen müssen. Tatsächlich aber war die Wirkung der Anklagen und Anfragen Overbecks innerhalb dieser Theologie gleich null. Um so weitreichender waren die Konsequenzen für Overbeck selbst. Schon 1873 war ihm klar: durch diese „Absage an meine Zunftgenossen“ (C 19) werde ich „unmöglich … für jedes theologische Katheder in meinem deutschen Vaterlande“ (C 169). Auch war ihm bewußt, sein „Lehrgeheimnis kundgethan zu haben“ (C 174); freilich habe er sein Buch „im Auditorium niemals auch nur genannt“, und außerdem habe er sich seinen Zuhörern als „Berather in allen Fragen, … mit denen junge Theologen sich ausserhalb des Auditoriums an ihre Lehrer zu wenden pflegen, … hartnäckig entzogen“. Aber im Laufe der Zeit wurde er dennoch „zur Einsicht gedrängt, … dass ich mit meinem Schriftchen über die Christlichkeit der Theologie mir nicht nur als Lehrer im engeren Sinne ein schweres flemmniss in den Weg gelegt, sondern mich auch als Schriftsteller mundtot gemacht hatte“ (C 192f).

Doch weder die Folgen für seine Person noch die weitere Entwicklung der Theologie im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts ließen Overbeck etwas von seiner Kritik zurücknehmen. Im Gegenteil! Er ging den von ihm eingeschlagenen Weg konsequent weiter. Wenn ihm auch – im Gegensatz zu Nietzsche – „jeder Stachel eines ernsten Christen- oder Religionshasses“ (CK 289) fehlte, so erweiterte er doch seine bis dahin vor allem gegen die Theologie als natürliche Verräterin des Christentums beschränkte Kritik auf das Christentum selbst. Christentum gab es einmal in einer dem modernen Geschichtsbewußtsein nicht koordinierbaren, weil längst vergangenen „Urgeschichte“. Es war ganz und gar von der Erwartung des in nächster Zukunft hereinbrechenden Gottesreiches geprägt. Jeder Versuch, dieses Christentum in der Gegenwart wiederzubeleben und als Norm gegenwärtiger Lebensgestaltung zu setzen, muß aus vier Gründen notwendig scheitern:

  1. Jede geschichtliche Form des Christentums ist seiner Ursprünglichkeit unangemessen und darum „modern“.
  2. Der heutige moderne Mensch kann nicht anders, als das Christentum aus der Einsicht der völligen Diskrepanz der Zeiten abzulehnen. Es gehört in die Antike.
  3. Das Unternehmen einer Anpassung (Modernisierung) des Christentums beweist nur, daß dieses faktisch ausgespielt hat. Ein der Zeit unterworfenes Christentum ist absurd.
  4. Das Christentum kann dem Menschen nicht helfen und ist darum grundsätzlich abzulehnen.

Diese Gedanken waren damals für einen Professor der Theologie schlichtweg unerhört und an Radikalität wahrhaft kaum zu überbieten. Overbeck war zum totalen Skeptiker und Agnostiker geworden: „Gottes Dasein, wie es mit ihm steht, geht uns Menschen nichts an!“ (SB 44). So faßte er seine Grundüberzeugung schließlich zusammen. Und an seiner radikalen Kritik an Theologie und Christentum festhaltend, ging er gegen Ende seines Lebens noch einmal mit scharfer, oft verletzender Polemik gegen die nach seiner Meinung in unzulässiger Weise mit dem Zeitgeist kokettierende Ritschl-Schule vor. So attestierte er z. B. Adolf Harnack, dem bedeutendsten Ritsch-Schüler, der damals auch auf die Kulturpolitik Wilhelms II. maßgeblichen Einfluß ausübte, dieser verrichte „den Dienst eines Friseurs an der theologischen Perücke des Kaisers“. Und mit Bezug auf das von Harnack im Jahre 1900 veröffentlichte Buch „Das Wesen des Christentums“ schreibt er, dieses habe ihm „die ‚Unwesentlichkeit‘ des Christentums weit eindringlicher bewiesen als das Wesen, dessen Erweisung auf dem Titelblatt angekündigt ist“ (C 217). Und an anderer Stelle: „Mit dem Christentum geht es zu Ende, es hat keine Macht über die Menschen mehr … Man kann sich nun anheischig machen, das Wesen des Christentums … an den Tag zu bringen … Dann kann es sich aber erweisen, daß es sich um kein lebensfähiges Wesen mehr handelt, weil es dem unbefangenen Blicke nur noch die Züge eines absterbenden Wesens darbietet. Es scheint in der Gegenwart Harnacks Beruf zu sein, dieses unverkennbar zu machen. Ein so schwächliches Ding wie das Christentum seiner Vorträge mit dem Majestätstitel des Wesens ausstatten, heißt nichts anderes, als diesem Ding den Totenschein ausstellen“ (CK 208f).

Aber auch dieser letzte Angriff Overbecks blieb so gut wie ohne Folgen. Wiederum sah man kopfschüttelnd und verständnislos über seine Thesen und Fragen hinweg. Resigniert stellte Overbeck in seinen letzten Jahren fest, man habe die von ihm aufgeworfenen Fragen gar nicht verstanden und selbst dort, wo man einzelne seiner Hinweise aufzunehmen meinte, diese nur völlig mißdeutet. Mit dem Gefühl, „in der Zukunft meine Heimath zu haben“ (SB 165), schloß er mit dem Leben ab und sah sich fortan als überflüssig an. Zusätzlich brachte ihn der schon immer zuvor empfundene, ihn im Rückblick auf sein Leben aber besonders quälende Widerspruch zwischen seiner langjährigen Tätigkeit als Theologieprofessor einerseits und dem Bewußtsein, daß er „gar kein Theologe war“ (C 188) und „den Glauben, den ich bei meinen Zuhören voraussetzte und zu dessen Verkündigung ich sie zu erziehen hatte, nicht theilte“ (SB 144), in „schwierige, langwierige, ja schließlich nur mit meinem Leben zu lösende Conflikte“ (SB 137). Nur die Liebe zu seiner Frau und zu den wenigen Freunden, die ihm geblieben waren, hielt ihn noch, auch unter körperlichen Beschwerden und in seelischer Unruhe, aufrecht. In eindrücklicher Weise kommt dies in einer der letzten schriftlichen Äußerungen Overbecks zum Ausdruck. Er hat sie am 25. Mai 1905 auf ein loses Blatt geschrieben. Sie trägt die Überschrift „Letzte Theologie“: „Was ich bis jetzt im Leben über den Fortgang der Erdenwelt oder ihrer Geschichte … (erfahren habe), hat mir den Kinderglauben, den an Gott, längst genommen, nicht aber den an die Menschen, der mir, woher es mir nun auch gekommen sein mag, bis jetzt geblieben. Und bei diesem … noch irgendwo schlummernden, doch lebendigen Glauben … hat mich, glaube ich, heute mein Arzt … sozusagen ‚gepackt‘ und mich für das Leben, das ich, an mir selbst verzweifelnd, zu verlassen mich in der laufenden Woche schon zum 2ten Male anschickte, wiedergewonnen, bis es mich selbst entläßt“ (SB 47).

Wenige Wochen nach der Abfassung dieser Zeilen, am 26. Juni 1905, ist Franz Overbeck gestorben.

Es ist seltsam, daß sich einige Theologen nach seinem Tod zur Begründung und Rechtfertigung ihrer eigenen, von Overbecks „Theologie“ grundverschiedenen Positionen gerade auf ihn beriefen, indem sie die Tatsache, daß er für seine Person jede Theologie und jede Form des Christentums, ja der Religion überhaupt, abgelehnt hatte, in Zweifel zogen und sogar hinter seinen schroffsten Aussagen noch irgendeinen Glauben religiöser Art meinten finden zu können.

Dagegen ist mit Nachdruck zu fordern, daß man Overbeck in der ganzen Anstößigkeit, die er haben mag, aber auch in der ganzen Faszination, die er ausübt, als den gelten lasse, der er war, und nicht versuche, ihn ohne Grund für sich in Anspruch zu nehmen. Gerade wenn er nicht umgedeutet wird, vermag er auch heute noch an die Theologen und überhaupt an alle, die es wagen, sich Christen zu nennen, Fragen zu stellen, die nicht ernst genug genommen werden können. Er hat, scharfsinnig wie keiner vor ihm, die Beziehungen von Christentum und Kultur, Religion und Geschichte durchleuchtet, aber keine Lösungen für die zahlreichen Probleme angeboten. Das ist sein Vorzug vor vielen anderen, das erschwert aber auch das Verstehen seiner Gedanken. Doch wer nicht die Mühe scheut, die Gedanken Overbecks nachzudenken, der wird nicht umhin können, in dem Labyrinth seiner vorbehaltvollen Sätze die gerade und kühne Linie eines unbedingt redlichen Geistes zu erkennen.


[C] Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, Streit- und Friedensschrift, 1873; 2., um eine Einleitung und ein Nachwort vermehrte Auflage 1903
[CK] Christentum und Kultur. Gedanken und Anregungen zur modernen Theologie. Aus dem Nachlaß hrsg. von C. A. Bernoulli, 1919
[SB] Selbstbekenntniss. Im Auftrag der Franz-Overbeck-Stiftung in Basel hrsg. und eingeleitet von E. Vischer, 1941

Frank Schleritt (WS 1993/94)

Franz Overbeck: Werke und Nachlaß. Metzler, Stuttgart 1994–2010, ISBN 978-3-476-01210-4

Carl Albrecht Bernoulli: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft. Diederichs, Jena 1908.
https://archive.org/details/franzoverbeckund01bern/page/n8

https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Albrecht_Bernoulli
https://de.wikipedia.org/wiki/Isaak_August_Dorner
https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_von_Harnack
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche
https://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_Ritschl_(Theologe)
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_von_Treitschke
https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Troeltsch

Overbecks bester Schulkamerad in Dresden war sein späterer Bundesbruder Wolfgang Helbig.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Helbig


(Obenstehendes ist die leicht ergänzte Fassung des Artikels aus der Bundes-Zeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 85 (Neue Folge), Göttingen, im April 1995, Nr. 1, Seiten 43–49)

(ks 10/2019)