Wie ich (in) die Hannovera fand

(Eine anekdotische Rückblende)

An einem sonnigen Mittag im Oktober 1966 ging ich die Herzberger Landstraße hinauf in Richtung „Nansenhaus“, wo ich im ersten Semester wohnte. Am Haus Nr. 9 lehnte ein älterer Herr am Zaun (wie ich später erfuhr, war es der Alte Herr Werner Thies). Er betrachtete die vorübergehenden Passanten und ließ sich die Herbstsonne auf die Nase scheinen.

Mein Blick fiel auf das Messingschild mit dem Namen „Hannovera“. Ich blieb stehen und fragte, ob dieser Name etwas mit der Stadt Hannover zu tun hätte, meiner Heimatstadt. Er nickte freundlich und lud mich ein, das Innere des Hauses zu besichtigen. Ja, die ersten Studenten im 19. Jahrhundert seien aus Hannover gekommen. Ich war schwer beeindruckt von dem Interieur in der großen Kneipe, den zahllosen Bildern der Bundesbrüder, die hier seit dem 19.Jahrhundert ihr Konterfei hinterlassen hatten. Besonders fesselte mich der große Wappenschild und die beiden gekreuzten Schläger.
„Oh, hier wird ja auch gefochten:“ entfuhr es mir. Doch AH Thies winkte ab und sagte schmallippig, das sei aber eine unbedeutende Nebensächlichkeit. Offensichtlich dachte er an die hitzigen, immer wieder aufflammenden Diskusssionen über das Für und Wider der Pflichtmensur. Er wollte das junge Erstsemester nicht verschrecken. Er konnte ja nicht wissen, dass meine naiv-romantische Idee vom studentischen Waffenkampf eine große Faszination auf mich ausübte.

Ich solle doch in den nächsten Tagen in den Abendstunden wiederkommen. Am runden Tisch in der kleinen Kneipe seien immer nette junge Leute beim Bier anwesend, und es gebe interessante Gespräche.

Kaum waren zwei Tage vergangen, da erschien der Bundesbruder Hollatz im Nansenhaus. Man führte ihn in das Besucherzimmer, denn die Zimmer der „Nanseaten“ waren sankrosankt und durften von Fremden nicht betreten werden. Er erzählte mir Einzelheiten über die Burschenschaft Hannovera und wiederholte die Einladung.

Schon bald saß ich am runden Tisch in einer fröhlichen Runde. Zu meiner Linken saß Bbr. Peitsch, der mir wortreich erklärte, eine Mitgliedschaft in einer Burschenschaft könnte ein ordentliches Studium keinesfalls beeinträchtigen. Er konnte ja nicht wissen, dass ich noch gar keinen geregelten Studienplan für die Fächer Deutsch und Französisch hatte, sondern einen Intensivkurs für die Erlangung des Großen Latinums besuchte. Das hatte ich nämlich in der Schulzeit versäumt und nach zwei Jahren Bundeswehr völlig vergessen. Ich schwieg aus Zurückhaltung und Schüchternheit und wollte die wortreichen Erklärungen meines Nachbarn nicht unterbrechen. Außerdem war ich viel zu sehr von der netten Atmosphäre, den Biergläsern, dem Mobiliar etc. beeindruckt.

Dann erschien Bundesbruder Schipper mit einer Flasche Wein. Man wollte dem neuen Gast etwas Gutes tun. Ich wagte nicht zu widersprechen. Viel lieber hätte ich ein Bier gehabt. Gegen 23 Uhr erklärte ich meine Bereitschaft, der Hannovera beizutreten. Was für eine Enttäuschung! Das sei formal erst am nächsten Tag in der Mittagszeit möglich. Und so geschah es auch. Zm ersten Mal hörte ich das Lied „Brüder, reicht die Hand zum Bunde“. Alle hießen mich willkommen und nannten ihren Namen. Ich war von der feierlichen Atmosphäre angetan und fühlte mich in dieser neuen Gemeinschaft sehr wohl.

Im Nansenhaus machte ich nunmehr sehr rar. Meinem Zimmergenossen (einem Studenten aus Amerika) gab ich einige erklärende Worte, auch war ich an vielen Abenden auf dem Haus, was Phil sehr recht war, denn er hatte in der Zwischenzeit zarte Bande zu einer Studentin aus Lausanne geknüpft. Da hätte ich nur gestört. Auch musste ich lernen, dass es Pflichtveranstaltungen bei der Hannovera gab, was mir Bundesbruder Theo Schröder unmissverständlich klar machte.

Dann kam der Tag der Pflichtmensur. Bundesbruder Moritz hatte mich ausreichend eingepaukt, dennoch hatte ich etwas wackelige Knie. Mein Gegenüber von der B! Holzminda schlug sich ebenso so wacker wie ich, dennoch sagte unser Mensurkonvent, ich hätte nicht ausreichend gerade und standhaft ein akzeptables Bild abgegeben. Also Abbruch.

Die Wiederholung gelang besser. Mein Kontrahent verpasste mir einen Schmiss auf die linke Schläfe, den Bundesbruder Schipper mit drei Nadeln flickte. Die Bundesbrüder Ropeter (Schlepper) und Sonnenberg (Desinfektion) machten mir Mut. Ich erwischte mein Gegenüber am Hinterkopf, so dass für ihn die Partie für beendet erklärt wurde.

An der Universität rumorte es. Die Linken, insbesondere der SDS, sprengten Seminare und Vorlesungen und erklärten diskussionswillige Professoren als „liberale Scheißer“. Auch waren sie in Fraktionen zersplittert und sich bei der Interpretation von Marx, Engels, Lenin, etc. einander spinnefeind.

Am runden Tisch gab es hitzige Diskussionen. Warum sollten die Studenten nicht auch mitbestimmen in den Fakultäten!? Die dominierenden Professoren könnten sich doch die Argumente anhören.

So kam es, dass meine Freundin, die aus Tübingen gekommen war und den Bundesbrüdern bekannt war, weil sie auch Jura studierte, so manche liberale Idee vertrat. Das ging unserem Bundesbruder („Coco“) Wolf zu weit, so dass er sie nach dem dritten Bier als „SDS-Tante“ beschimpfte. Dies ging allerdings in allgemeiner Heiterkeit unter.

Als ich nun endlich das Große Latinum bewältigt hatte, gönnte ich mir eine Woche Paris und wandte mich meinen Studienfächern zu.

Doch es kam anders. Im vierten Semester wurde ich Sprecher und hatte einen Berg an Organisation vor mir. Leider war ich nicht geschickt genug, die Aufgaben zu strukturieren und zu delegieren. So blieb alles an mir hängen und die Universität sah mich nur noch selten.

Doch es klappte alles zufriedenstellend. Die Altherrenschaft (AH Dahnke) unterstützte mich sehr umfangreich und übernahm auch etliche Aufgaben.

Der große Kommers verlief harmonisch. Etliche prominente Gäste baten um das Wort und ich sah mich verpflichtet, zu danken, aber auch zu kommentieren. Dann kam der Ballabend, der mir in ewiger Erinnerung bleiben wird.
Frau Klocke, die Frau unseres AH-Vorsitzenden Klocke, hatte im Rahmen der Damenspende ein Bild erworben, das sie der Aktivitas für eine Wand in der Bibliothek überreichen wollte. Ich suchte nach angemessenen Dankesworten und erntete brüllendes Gelächter im ganzen Saal. Ich war völlig verdattert, wusste nicht, wie mir geschah. Der Alte Herr Thies lachte aus vollem Hals und rief mir beschwörend zu „Mach weiter, mach weiter!“
Ich hatte den Ehrentitel von Frau Klocke, nämlich „Alte Dame Klocke“, in meiner Aufregung zu „Liebe Dame, alte Klocke“ verdreht.
Meine Wortreiche Entschuldigung nahm sie mit süß-säuerlicher Miene entgegen. Bbr. Moritz rettete die Situation und forderte Frau Klocke traditionsgemäß zum ersten Tanz auf, worauf sie Anspruch hatte. Ich hätte es nicht gekonnt.
Nach Jahren kam der Sohn von Ehepaar Klocke zu Besuch zur Weihnachtskneipe, weil er auch den Pechvogel Stroicz sehen wollte. Er lachte herzlich und drückte mir die Hand. Die Bundesbrüder haben mich noch jahrelang gefoppt.

Was gibt es noch zu berichten:

  • dass am Ende des Kommersabend traditionsgemäß das Klavier aus der großen Kneipe verbrannt wurde
  • dass zahllose Beschwerden aus der Nachbarschaft wegen ruhestörenden Lärm kamen. Mehrmals erschien die Polizei im Haus und im Garten.
  • dass AH Thies seine Platten mit italienischer Barockmusik im Garten erklingen ließ, was den Nachbarn, Herrn Professor Donner, regelmäßig veranlassste, eine Anzeige bei der Polizei aufzugeben. Frau Donner war großzügig. ln der Mittagszeit sind zwei Bundesbrüder im dunklen Anzug und einem Blumenstrauß erschienen und baten zerknirscht um Verzeihung.
  • Zu vorgerückter Stunde habe ich ein Bad im Stadthallenbad genommen, was eine Polizeistreife nicht lustig fand. Ich kam so gerade eben noch ohne eine Anzeige wegen groben Unfugs davon. AH Thies wollte die Szene fotografieren und geriet in ein heftiges Wortgefecht mit den Beamten.

So verging das Jahr 1968 und ich widmete mich verstärkt dem Studium. Meine Freundin (heute meine Frau) war bei allen Tanzfesten, Silvesterfeiern, Stiftungsfesten dabei. Unsere schriftliche Prüfung im Frühjahr 1972 fiel mit unserer Heirat in Hannover zusammen, weil es darum ging, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Später kam die mündliche Prüfung, wir wurden Referendare, und es begann das bürgerliche Leben.

Norbert Stroicz (WS 1966/67)

(Redaktionell geringfügig überarbeiteter Beitrag unseres Bundesbruders Norbert Stroicz, geboren 1943 in Wohlau (Schlesien), aktiv WS 1966/67, Oberstudienrat a.D. in Hannover, in: Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 108 (Neue Folge), Göttingen, im November 2018, Nr. 2, S. 98 ff.)


(ks-8/2019)