Carl von Lemcke

Carl von Lemcke als Lyriker

(Überarbeitete Fassung des Artikels aus der Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 96 (Neue Folge), Oktober 2006, Nr. 2, Seiten 23–26)


In einschlägigen Biografien und Konversationslexika wird für unseren Bundesbruder Carl von Lemcke (geboren 26. August 1831 in Schwerin, gestorben 7. April 1913 in München, aktiv SS 1852) als Beruf oft „Ästhetiker und Kunsthistoriker“ angegeben. Diese Bezeichnungen sind zweifelsohne zutreffend, geben aber keinen Hinweis darauf, dass Lemcke zumindest zu Lebzeiten auch ein bekannter Schriftsteller war.

Ehe darauf eingegangen wird, zuvor zum besseren Verständnis kurz die wichtigsten Stationen seiner beruflichen Tätigkeiten: Nach dem Abitur in Schwerin bezog Lemcke 1851 die Universität Göttingen und studierte Philosophie sowie Kunst-geschichte. Danach wechselte er nach München und später nach Heidelberg, wo er 1856 zum Dr. phil. promovierte. Anschließend führten ihn Studienreisen nach England, Frankreich und Italien. 1862 habilitierte sich Lemcke in Heidelberg und wurde Privatdozent für Ästhetik und Literaturgeschichte. Seine Habilitationsschrift „Populäre Ästhetik“ ergänzte und vervollkommnete er in den nächsten Jahren, so dass dieses Werk 1890 in der 6. Auflage erschien. Danach wurden daraus 2 Bände unter dem Titel „Ästhetik in gemeinverständlichen Vorträgen„. Als Privatdozent in Heidelberg befasste sich Lemcke auch mit Literaturgeschichte. Aus dieser Zeit stammt das Werk „Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit, Band I –Von Opitz bis Gottsched„. Dieser Band erhielt nach 1871 aller Wahrscheinlichkeit nach noch eine kurze Ergänzung und den Untertitel „Von Opitz bis Klopstock„. Band 2 hat Lemcke nicht mehr vollendet, denn 1873 wurde er Professor für Ästhetik und Kunstgeschichte an der Reichsakademie für Bildende Künste in Amsterdam; aus dieser Zeit stammen Veröffentlichungen über niederländische Maler und Malerei. Drei Jahre später wechselte Lemcke an die Technische Hochschule Aachen, ehe er 1885 einem Ruf an die Technische Hochschule Stuttgart als Nachfolger von Wilhelm Lübke folgte. Von 1892 bis 1895 war er Rektor dieser Hochschule. Zugleich erhielt er einen Lehrauftrag an der dortigen Kunsthochschule. Darüber hinaus wurde er 1897 Direktor der Stuttgarter Gemäldegalerie. 1899 erfolgte die Erhebung in den Adelsstand. Nach der Pensionierung 1903 zog er nach München, wo er bis zu seinem Tode wohnte.

Relativ spät, nämlich während der Jahre in Aachen, begann Lemcke, unter dem Pseudonym Karl Manno Romane zu schreiben. Sein erster Roman war „Beowulf„(1882, 2. Aufl. 1889, 3. Aufl. 1899); es folgten „Ein süßer Knabe“ (1884, 2. Aufl. 1886), „Gräfin Gerhild“ (1892) und „Jugendgenossen“ (1897). Das Lustspiel „Kinder des Tages“ vermochte sich nach den Ausführungen seines Biografen  A. Dreyer (Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, XVIII. Band 1, [1. Januar bis 31. Dezember l913], Berlin 1917, S. 127 f.) nur an einigen Bühnen Eingang zu verschaffen.

Und nun zur Lyrik unseres Bundesbruders: Wann Lemcke begann, Gedichte zu schreiben, kann ich nicht sagen; sehr wahrscheinlich stammen die ersten aus der Zeit als Gymnasiast in Schwerin. Sein Kneipname bei der Hannovera, „Liederschatz“, deutet daraufhin, dass er sich frühzeitig mit der Dichtkunst befasste. Möglicherweise hat er frühe Werke später überarbeitet. 1861 erschien von ihm im Verlag Hoffmann und Campe in Hamburg der Band „Lieder und Gedichte„. Etliche seiner Lieder sind auch im Internet zu finden.

Hervorzuheben ist zunächst, dass Lemcke mit seinem Bundesbruder Karl von Lützow (geboren 25. Dezember 1832 in Göttingen, gestorben 2. April 1897 in Wien, aktiv WS 1851/52, später Professor für Architekturgeschichte an der Technischen Hochschule Wien) in München zu den Mitbegründern des Dichterbundes „Krokodile“ gehörte. Die beiden Mecklenburger verband übrigens zeitlebens eine enge Freundschaft; Lemcke widmete seine „Populäre Ästhetik“ später „seinem lieben Freund Karl von Lützow in Wien“. Lützow wurde erster Schriftführer der „Krokodile“. Diesem Dichterbund trat auch Emanuel Geibel (1815-1884) bei, der sich zu dieser Zeit in München aufhielt und gleichsam der geistige Führer der Dichtervereinigung war. Dreyer stellte dazu in der von ihm verfassten Biografie fest, dass Geibels unerbittliche Forderung nach Formeinheit von Gedichten einen bedeutenden Einfluss auf Lemckes Lyrik gehabt hat.

Darüber hinaus ist anzumerken, dass Johannes Brahms (1833-1897) mindestens 12 Gedichte aus dem 1861 erschienenen Band „Lieder und Gedichte“ vertont hat. Dabei ist eines sicher: Lemcke hat keine Gedichte zu bereits bekannten Weisen von Brahms geschrieben. Die ersten vier Gedichte, für die Brahms eine Melodie komponierte (Opus 41/2-41/5), waren in einer Edition enthalten, die 1862 erschien. Die weiteren Gedichte vertonte Brahms in den folgenden Jahren. Für andere Gedichte von Lemcke haben die im 19. Jahrhundert bekannten Musiker Anton Rubinstein (1829-1884), Franz Wilhelm Abt (1819-1885) sowie Adolf Jensen (1837-1879) Melodien geschrieben. Etliche Gedichte wurden ins Englische, einige ins Französische übersetzt.

Bei dem Versuch, Lemckes Gedichte inhaltlich nach Gebieten einzuteilen, bewegt man sich auf dünnem Eis. Eine Gruppe könnte man als vaterländisch bezeichnen, wobei ich vermute, dass das nachfolgende Beispiel aus der Zeit von 1848/49 stammt, als Lemcke noch das Gymnasium in Schwerin besuchte, denn eigentlich nur aus dieser Zeit passt der Aufruf zur Verteidigung von Schwarz-Rot-Gold.

          Freiwillige her!

          Freiwillige her!
          Von der Memel bis zum Rhein,
          Von den Alpen bis zum Meer,
          Freiwillige her!
          Schwarz, Rot, Gold ist das Panier,
          Für Dich, Deutschland, kämpfen wir!
          Freiwillige her!

          Freiwillige her!
          Duldet ihr der Feinde Spott?
          Ist der Fluch noch nicht zu schwer?
          Freiwillige her!
          Dänen, Welsche, wer es sei,
          Nieder fremde Tyrannei!
          Freiwillige her!

          Freiwillige her!
          Nehmt die Büchsen, zielet gut!
          Auf zu Ross mit Schwert und Speer,
          Freiwillige her!
          Schwarz, Rot, Gold ist bedroht.
          Vaterland! Sieg oder Tod!
          Freiwillige her!

          Freiwillige her!
          Deutsches Volk, da braust der Sturm:
          Einig! Keine Trennung mehr!
          Freiwillige her!
          Einig! Rufst im Schlachtenrot!
          Deutsches Volk, Sieg oder Tod!
          Freiwillige her!

Daneben gibt es Gedichte, die man in die komisch-lustige Kategorie einordnen könnte, z. B.:

          Salamander

          Es saß ein Salamander
          Auf einem kühlen Stein,
          Da warf ein böses Mädchen
          Ins Feuer ihn hinein.

         Sie meint, er sollt verbrennen,
          Ihm ward es wohl zumut,
          Wohl wie mir kühlem Teufel
          Die heiße Liebe tut.

Nach meinem Empfinden ist Lemckes beste Lyrik diejenige, die einen etwas wehmütigen Zug hat. Vielleicht können das die folgenden Gedichte verdeutlichen:


          Veilchen vom Berg

          Veilchen vom Berg,
          Woran mahnest du mich?
          Hoch auf den Bergen, da pflückte ich dich,
          Wolken tief unten, Adler hoch oben,
          Vor uns am Abhang die Gämsen stoben,

          Veilchen vom Berge, wohin ist die Zeit?
          Weit, weit dahinten, ach ewig weit

          Veilchen vom Berg,
          Woran mahnest du mich?
          Jubelnde Liebe, die pflückte dich.
          Herzen voll Sehen, Blicke voll Bangen,
          Suchen und Finden, glühende Wangen
          Veilchen vom Berge, wohin ist die Zeit?
          Weit, weit dahinten, ach ewig weit.

          Veilchen vom Berg,
          Woran mahnest du mich?
          Hab ich von allem nun nichts als dich
          Musste das Glück so schnell zerstieben
          Fern sind die Berge, ferner das Lieben.
          Veilchen vom Berge, wohin ist die Zeit?
          Weit, weit dahinten, ach ewig weit.



          Im Garten am Seegestade

          Im Garten am Seegestade
          Uralte Bäume stehn,
          In ihren hohen Kronen
          Sind kaum die Vögel zu sehn.

          Die Bäume mit hohen Kronen,
          Die rauschen Tag und Nacht,
          Die Wellen schlagen zum Strande,
          Die Vöglein singen sacht.

          Das gibt ein Musizieren
          So süß, so traurig bang,
          Als wie verlorene Liebe
          Und ewiger Sehnsucht Sang.


Wer das Allgemeine Deutsche Kommersbuch ab der 154. und 155. Auflage aufmerksam durchblättert, kann feststellen, dass darin das Lied „Hic hae hoc, zerrissen ist mein Rock“ enthalten ist. Wann und auf wessen Anregung dieses Lied in das Lahrer Kommersbuch aufgenommen worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis; in der 144. – 150. Auflage von 1929 steht es jedenfalls noch nicht. Im Übrigen sei angemerkt, dass m. W. Lemcke der einzige Bundesbruder ist, von dem ein Lied in der „Bierbibel“ erschienen ist.

In seiner Bundesgeschichte vermerkt Theo Lampmann auf Seite 188 f., dass die Aktivitas im SS 1906 – nachdem sie gerade wieder aufgemacht worden war – Alten Herrn Karl von Lemcke zum goldenen Doktorjubiläum gratulierte. Daraufhin erhielt sie zur Antwort: „Heil unserer neuentstandenen Hannovera! Vivat, Floreat, Crescat! Herzlichen Dank für die Glückwünsche zu meinem goldenen Doktorjubiläum den jungen und den alten lieben und geehrten Bundesbrüdern! In treuem Andenken an die alte Zeit, mit allen guten Wünschen für die wieder für die burschenschaftlichen Ideale eintretenden Grünen. Der alte Bundesbruder Liederschatz Karl v. Lemcke, Dr., Professor a. D.“

Henning Tegtmeyer (WS 1961/62)