Iwan Lorentzen

Zum Gedenken an unseren Bundesbruder Iwan Thomas Claudius Lorentzen (Hannovera Göttingen WS 1876/77, Frankonia (später in Germania umbenannt) Halle SS 1879, Ehrenmitglied Germania Jena 1928), geboren am 27. November 1856 in Ahrensbök (Herzogtum Holstein), aufgewachsen in Schleusingen (Provinz Sachsen), 1877 Abitur am Realgymnasium in Meiningen. Er studierte Naturwissenschaften in Göttingen und Halle mit dem Ziel, Gymnasiallehrer zu werden. Studium 1879/80 unterbrochen, um der Dienstpflicht als Einjährig-Freiwilliger zu genügen. Examen 1882/83 abgelegt; Probejahr am Königlichen Gymnasium in Erfurt absolviert. Von 1884 bis 1889 Lehrer an Gymnasien in Schleusingen bzw. Suhl, dann bis 1905 Oberlehrer am Internat Schulpforta in Schulpforte (Kreis Weißenfels), danach Gymnasialprofessor am Königlichen Realgymnasium in Erfurt, gestorben am 31. Dezember 1944 in Erfurt.

In Memoriam Iwan Lorentzen

(Redaktionell hinsichtlich der neuen Rechtschreibung geringfügig überarbeiteter Artikel unseres Bundesbruders Gustav Hauenschild, geboren 1905 in Graste (Kreis Alfeld), aktiv SS 1924, Dr. jur., Oberpostpräsident a. D., gestorben 2005 in Hannover, in: Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 44 (Neue Folge), Oktober 1954, Nr. 2, S. 13–14)

Auch ohne dass ein besonderer Anlass besteht, gilt es, eines Bundesbruders zu gedenken, dessen Andenken gerade für die junge Generation niemals in ein schales Nichts versinken darf. Denn Iwan Lorentzen – aktiv 1876/77 – zugleich Jenenser Germane und Hallenser Germane – war ein Freund der Jugend, ja er verkörperte die Jugend in klassischer Form, und war der ewige Student bis zu seinem Tode, der ihn im Alter von 88 Jahren aus einem gesegneten und wahrhaft ausgefüllten Leben dahinraffte. Sein Beruf – er war Professor in Schulpforta – mag vielleicht seine Verbundenheit mit der Jugend erklären, allein die Eigentümlichkeit seines Wesens war die innere jugendliche Freiheit und Unabhängigkeit, die ihn instand setzte, besonders die neu aktiv gewordenen Bundesbrüder bei seinen Besuchen in Göttingen zu begeistern und mit fortzureißen. Wir, die wir in den Jahren 1924-26 aktiv waren, freuten uns auf die regelmäßig zu Semesterbeginn stattfindenden Besuche des damals bereits pensionierten Professors, der seiner erlauchten Behörde als Dank für die Überreichung der Zurruhesetzungsurkunde ein originelles Bild – Handstand auf dem Barren – mit folgender persönlicher Widmung überreichte: „Dieser Mümmelgreis ist wegen körperlicher und geistiger Schwäche in den Ruhestand versetzt worden.“ Diese Originalität beindruckte uns immer wieder, wenn „Iwan der Schreckliche“, wie er sich scherzhaft nannte, seine „Iwanslust“ (*) auf dem Grünenheus bezog und uns beim Mogelramsch, beim Diskutieren und Disputieren, beim Wandern, beim Singen seiner noch heute überlieferten Anstichlieder in seinen menschlichen und geistigen Bann zog. Der alte Humanist schleuderte jeder „Spinntyrannis“ seine unerbittlichen Flüche entgegen, aber er liebte die geschärfte Waffe des Verstandes, er übte uns in der Kunst der freien Rede und überlieferte uns zahlreiche Anekdoten und Anstiche. Die jungen Aktiven verehrten und liebten ihn ebenso wie seine Schüler aus Schulpforta, die ihren alten Lehrer immer wieder aufsuchten, selbst wenn sie in die höchsten Stellen des Staates und der Wirtschaft aufgerückt waren. Wer seinem Herzen über das übliche Maß hinaus näher gekommen war, den beehrte er, der eigentlich Naturwissenschaftler war, mit gelegentlichen Schreiben in lateinischer Sprache, die Betrachtungen über Kulturgeschichte und Philosophie enthielten und echten Humor atmeten, wie ihn Wilhelm Busch nicht besser ausgesprochen haben könnte. Die Kriegswirren haben verhindert, vom Tode dieses seltenen Bundesbruders Kenntnis zu nehmen und ihm die gebührende Ehre zu erweisen. Nur Körner kann sich aus unserem hannoverschen Kreis erinnern, seine Todesanzeige im Völkischen Beobachter 1944 gelesen zu haben. Darum wollen wir seiner an dieser Stelle in Ehrfurcht, Liebe und Treue gedenken.

Hauenschild

 Iwan-Lorentzen-Wanderpreis

(Redaktionell hinsichtlich der neuen Rechtschreibung geringfügig überarbeiteter Artikel unseres Bundesbruders Karl Siebert, geboren 1905 in Markirch (Elsaß), aktiv SS 1928, Apotheker, gestorben in Kirchhain (Kreis Marburg), in: Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 45 (Neue Folge), Juni 1955, Nr. 1, S. 7–8)

Wie schon so oft sitze ich heute wieder in meinem Sonntagsdienst als scarabaeus globuliferus (Iwan Lorentzen) und blättere im Buch der Erinnerungen und in meinen Fotos. Anregung dazu gab mir die letzte Bundeszeitung. Hoffmann hatte darin an die schlafenden Geister einen aufrüttelnden Appell gerichtet, und Hauenschild hatte unserem unvergesslichen Lorentzen endlich (!) den gebührenden Nachruf gewidmet.
Auch ich hatte noch das Glück, Lorentzen erleben zu dürfen, und heute mache ich mir Gedanken darüber, was er wohl zur heutigen Entwicklung, insbesondere unseres Bundes, zu sagen hätte. Fällt es uns jüngeren Jahrgängen schon schwer, sich in das heutige Bundesleben hineinzudenken, so kann ich mir nicht vorstellen, wie Lorentzen damit hätte fertig werden können. Er war nun einmal konservativ in seinen Ideen und konsequent bis zum Letzten. Vieles, was die Zeit anders gestaltet hatte, als er es selbst kennengelernt hatte, lehnte er ab und bekämpfte es mit zynischem Hohn oder Ignorieren. Aber trotz dieser Gegensätze war er die Seele des Bundes.
Im Geiste sehe ich ihn noch wie ein Symbol der Freude und edelsten Menschentums anlässlich des 80. Stiftungsfestes die Festteilnehmer vom Bahnhof Nörten-Hardenberg in feierlichem Zuge hinauf in das bröckelnde Burggestein unseres Stiftungsortes führen. Da liegt auch das Bild vor mir, das jene Tage uns unvergesslich macht. Wir waren damals Füchse, und nach wochenlangen Vorbereitungen rollte das Fest in einer Harmonie und Vollkommenheit ab, die all‘ unsere Mühen reich belohnten. Lorentzen im Vordergrund des Bildes, umrahmt vom blühenden Leben, strahlt aus seinen ewig blauen Augen die Freude dieses herrlichen Erlebens.
Ein anderes Bild ruft den 80. Stiftungstag in Erinnerung zurück. Es war damals eine Selbstverständlichkeit, dass man zu Fuß zum Hardenberg wanderte, gleichsam eine Pilgerfahrt. Wenn ich in der letzten Bundezeitung lese, dass man an besagtem Tage den Hardenberg in diesem Jahr „teils auf knatternden Motorrädern, teils auf beschaulichen Fahrrädern“ heimgesucht hat, dann höre ich unseren AH Lorentzen im Grabe ächzen über die Fortschritte der Zeit. Ich habe noch nie gehört oder gelesen, dass Wallfahrten per Vehikel durchgeführt werden: damit verlieren sie ihren Sinn! Dies meiner lieben Aktivitas zur Beachtung! War diese erwähnte Fahrt eine Stippvisite, die nun einmal, weil es sich so gehörte, programmgemäß durchgeführt werden musste? Dann habt ihr Armen keinen Hauch von Lorentzens Geist verspürt! Langsam, aber sicher geht doch auch die letzte Romantik verloren! Was erhaltenswert ist, sollte man doch unter allen Umständen zu erhalten suchen!
Welch‘ schöne Erinnerung knüpft sich an unsere Wanderung anlässlich des 80. Stiftungsfestes zum Hardenberg! Als wir dort ankamen, fanden wir am Hang des Burgberges ein Blumengebinde in Form der Ziffern 80, taufrisch von unseren damaligen Verkehrsdamen niedergelegt, die uns damit bewiesen, dass sie noch früher als wir selbst aufzustehen verstanden.
Es war Lorentzen, der sich anlässlich seines alljährlichen Frühjahrsbesuches wenige Bundesbrüder zu einer Wanderung herausgriff, den sonnigen Vormittag durch Göttingens herrliche Wälder streifte, um auf dem Heimweg in der Höhe des Rohns sich in Dauerlauf setzte und die jungen Bundebrüder weit hinter sich lassend als Erster auf dem Hause ankam. Den Namen „Sport“ habe ich nie aus seinem Munde gehört, und doch war er der körperlich und geistig vollendete Mensch. – Und wieder blättere ich weiter, da steht er, der Herr Prof. im Schlapphut, auf Göttingens Bahnsteig, um gemeinsam mit Bundesbrüden mir das Abschiedslied zu singen.
Er selbst machte keinerlei Aufsehens bei seinem Kommen und Gehen. Plötzlich war er da, und ebenso plötzlich war er wieder verschwunden. Aber die kurze Zeit, die er unter uns weilte, ließ doch einen jeden von uns, mag er ihm nahe oder näher gestanden haben, aufhorchen, und einem jeden hatte er etwas von seinen Gaben des Geistes, der Treue und der Güte mitzugeben. Das empfanden auch die vielen Kartellbrüder, die damals unser Haus belebten. Der Verbundenheit zum Kartell gab die Verleihung des Germanenbandes anlässlich unseres achtzigjährigen Stiftungsfestes sichtbaren Ausdruck. Ihm selbst kam dieses Band überraschend, und dem wort- und redegewandten Lorentzen fehlten die Worte. Statt dessen glänzten Freudentränen in seinen Augen.
Was könnte er, wenn er noch unter uns weilte, heute unseren jungen Bundesbrüdern noch geben! Nicht Geld, nach dem jeder Bundesbericht stöhnt (womit ich keinesfalls dessen Notwendigkeit in Abrede stellen will); Geld hatten auch wir nicht, am allerwenigsten Lorentzen, aber Begeisterung und Hingabe für und an das große Ideengut der deutschen Burschenschaft! Er war der Wanderer zwischen beiden Welten, wie ihn der Bubenreuther Walter Flex in seiner Weltkriegsdichtung so einmalig gezeichnet hat, ein Sonnenjünglig bis in das hohe Alter. Als makellose Gestalt, an Golde so arm, doch an Tugend so reich, lebt er in und alle, die wir ihn erleben durften, als „ewig alter junger“ Bursche weiter.
Wenn ich mit diesen Zeilen Lorentzens noch einmal gedacht habe, so nicht deshalb, weil er es wohl wert ist, einen zweiten Nachruf zu erhalten, als vielmehr deshalb, weil wir uns doch alle mehr oder weniger in seiner Schuld fühlen. Und um einen kleinen Teil dieser Schuld abzutragen, möchte ich anregen, einen Wanderpreis zu stiften, der für das Wandern innerhalb des Kartells Jahr für Jahr vergeben wird. Ich glaube, damit dem Andenken Lorentzens am besten zu dienen, damit sein Name innerhalb der Hannovera und des grün-weißen-roten Kartells ewig erhalten bleibt.

Siebert 

Gruß an Göttingen

(Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 45 (Neue Folge), Dezember 1955, Nr. 2, S. 1)

         Gruß an Göttingen

          Inmitten des alten Walles Kranz,
          In majestate venusta
          Liegst du in ewiger Jugend Glanz,
          Hehre Georgia Augusta.

          Und du, mein liebes Grünenhaus,
          In wonneseligen Stunden
          Hab ich in Dir mein Vaterhaus
          Für alle Zeit gefunden.

          Ich fand und sang begeistert dort
          Vor bildgeschmückten Wänden
          Das heilig schöne tiefe Wort
          Der „Bibel des Studenten“.

          Romantik auf den Bergen wohnt;
          In altvertrauten Mauern,
          Wo Seligkeit im Herzen thront,
          Verscheucht sie alles Trauern.

          Stätte der Freundschaft, Stätte der Lust
          Bist du in Denken und Lieben
          Unauslöschlich in meiner Brust
          Strahlend hineingeschrieben.

          Wenn auch manches Alte zerreißt,
          Goldne Gebräuche versanken,
          Über den Dächern kreist noch der Geist
          Ewiger großer Gedanken.

          Goldner Gedanken Erinnerung blieb
          Und der Jugend Genießen;
          Georgia, du Traute, ich habe dich lieb!
          Augusta, ich lasse Dich grüßen!

                              Iwan Lorentzen

Nachtrag

Auf dem Kommers des 90. Stiftungsfestes der Burschenschaft Hannovera am 2. Juli 1938 in Göttingen hielt Iwan Lorentzen, damals Senior der Verbindung, die Festrede, die er anschließend drucken ließ und die dem Rundschreiben von 4. Oktober 1938  des damaligen Altherrenvorsitzenden Ernst Schreiner beigefügt war. Iwan Lorentzen zitierte in seiner Ansprache zwei seiner Gedichte, wobei anzumerken ist, dass beide Gedichte in geringfügig geänderter Fassung in anderen  Veröffentlichungen abgedruckt worden sind. 

Der alte Student

          Sie tadeln das Trinken und Fechten,
          Das grün-weiß-rote Band;
          Sie wollen der Jugend Rechten
          Entwinden Zauber und Tand.

          Sie sehen die Dinge von außen,
          Und zwar mit sehr weisem Gesicht,
          Sie können die Schale zerzausen, 
          Den Kern, den verstehen sie nicht. –

           Der Kern ist ein lindes Begegnen
           Von Traum und Wirklichkeit,
           Das dankbare Herzen segnen
           Als Märchen in nüchtener Zeit. –

           Mag sein, wenns bei Licht ihr betrachtet,
           Das Wunder zerstiebt in Nichts;
           Doch sind wir nicht so umnachtet,
           Daß wir bedürften des Lichts. –

           Wenn Zechern die Stunden entschwinden,
           Wenn Küsssenden schwindet die Welt,
           Wenn singend die Klingen klirren,
           Wenn Forschern die Lüge zerfällt,

           Da sprudelt der Freiheit Bronnen,
           Da leuchtet silbern das Glück,
           Dorthin, wenn alles zerronnen
           Kehrt sehnend der Bursche zurück. –

           Und faß ich den bunten Fetzen,
           Der von der Erinnerung mir blieb,
           Ich möchte mit Tränen ihn netzen,
           Ich habe die Jugend so lieb. –

           Strolch ich durch Göttingens Gassen,
           Da schwindet Euer Geist, Euer Witz;
           Was mir die Erinnerung gelassen
           Das ist mein schönster Besitz!

Seine Rede beendete Iwan Lorentzen angesichts der Gewissheit, dass eine studentische Korporation im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft hatte, mit dem Satz und seinem Gedicht:

Im Herzen bleiben wir zusammen und summen auch in fernen Tagen:

           Hannovera, dir gehör ich,
           Getreu bis in den Tod;
           Auf deine Fahne schwör ich,
           Die Farben grün-weiß-rot. –

           Hannovera kanns beweisen,
           Beweisen durch die Tat;
           Ihr Herz und auch ihr Eisen
           Stets brav geschlagen hat!

Henning Tegtmeyer (WS 1961/62)



(*) „Iwanslust“ war eine kleine ungeheizte, südöstlich gelegene, völlig schräge Dachkammer des Grünenhauses mit einem winzigen Fenster nach Osten, die nach dem Umbau des Dachgeschosses mit der ehemals davor gelegenen Teeküche zu einem Zimmer zusammengelegt worden ist.




(ks-8/2019)