Gedanken am 17. Februar …

Heute [17. Februar 2021] vor 70 Jahren ist Hannovera nach dem Kriege wiedererrichtet worden.
Von den damaligen jungen Studenten sind die Juristen Günther Fruth (1928–2004), Harald Knuth (1927–2020), Karl Heinz Schröder (1926–1994) und Harald Tetzlaff (1927–2017) dabeigeblieben.
Keiner dieser Gründungsburschen ist heute noch am Leben.

Dem feierlichen Gründungskommers in der Alten Fink in Göttingen waren viel Arbeit und Mühen Alter Herren und intensive Gespräche der Gründer über künftige Form und Inhalt der Hannovera vorausgegangen. Was sollte tradiert, was weiter entwickelt werden? Und wie? (Ur-)Burschenschaftliche Grundsätze, Lebensbund, Konventsprinzip und Farbentragen sind Kernpunkte geblieben; bewährte studentische Formen und Veranstaltungen wurden weitergeführt. Viel wurde aber auch in langen Gesprächen und Auseinandersetzungen hinterfragt, angepasst und für die Zukunft entwickelt; die Bestimmungsmensur ist umstritten geblieben.

Am 17. Februar 1951 wurde die Burschenschaft Hannovera als aktiver Bund rekonstituiert. Aus der Rede von Bundesbruder Wilhelm Körner (1898–1971), Träger des Ehrenbandes der Burschenschaft Hannovera, anlässlich der Wiedergründung sei hier zitiert:

Liebe Bundesbrüder!
Im Jahre 1933 waren wir zum letzten Mal zur Feier unseres 85. Stiftungsfestes in Göttingen zusammen. Damals ahnten wir nicht, was vor uns lag und wußten nichts von der Not, die uns bevorstand. Aber über die Zeit hinweg, die wir durchlebt haben, hat uns das grün-weiß-rote Band begleitet und die Bande, die wir in unserer Jugend geknüpft haben, sind nicht zerrissen. Das beweist die große Zahl derjenigen, die heute hier zusammengekommen sind, um nicht nur den alten Lebensbund zu erneuern, sondern einen neuen Bund zu begründen, der an das Gute unserer alten Tradition anknüpft.

Unsere Hochschulen … sind ja nicht allein Einrichtungen für Forschung und Lehre, sondern sie sollen doch im besonderen der Erziehung des jungen Studenten dienen. Vielleicht ist diese Aufgabe wichtiger als jede andere und jeder Forscher und Lehrer an ihnen sollte sich darüber klar sein, daß er einmal durch den Geist der Strenge, der Objektivität und der Wahrhaftigkeit der Wissenschaft, die er vorträgt, andererseits durch das Vorbild seiner Persönlichkeit, ein Erzieher seiner Hörer und Schüler sein sollte. Aber das genügt nicht! Ohne die Selbsterziehung der Studenten bildet sich nicht der akademische Nachwuchs, den wir in unserer heutigen völlig durcheinander geratenen Gesellschaftsordnung brauchen. Diese ist aber nur in kleinen Gemeinschaften möglich, in denen zunächst im Freundeskreise eine Abstimmung der Lebensgrundsätze und der praktischen Lebensregeln der Mitglieder aufeinander erfolgt und damit die Grundlage für ein späteres erfolgreiches Leben und Wirken in der großen menschlichen Gemeinschaft gewonnen wird.

Und da [unsere jungen Bundesbrüder] sich zu burschenschaftlichem Gedankengut bekennen, wollen wir sie auf unseren Lebensbaum pfropfen und hoffen, daß der alte Stamm wieder neue Zweige treibt, die vielfältig Blätter und reichlich Früchte tragen. Dabei werden wir uns aber darüber klar sein müssen, daß die Blätter und Blüten dieses Baumes nicht die gleichen sein werden wie bisher, denn seine Lebensgrundlagen und Lebensbedingungen sind andere geworden. Wie jeder Baum, der verpflanzt oder aufgepfropft wird, sich in Wachstum und Früchten ändert, so wird auch das neue Bundesleben, das hier in Göttingen erwachsen und geführt werden soll, ein gegenüber früher verändertes Gesicht tragen.

Jetzt stehen wir an der Schwelle eines neuen Zeitalters, das zu formen und zu bestimmen vielleicht noch in unserer Hand liegt; unsere Jugend aber soll die Aufgaben dieses Zeitalters erfüllen und darauf vorbereitet sein. Damit übernehmen wir Älteren eine neue Verantwortung, die nach dem eigenen Erleben der letzten Jahrzehnte mit allen ihren Folgen eine ganz besonders schwere ist. Laßt wie deshalb die Tradition, die wir unserem jungen Bunde mitgeben wollen, ernsthaft überprüfen, ob sie der Gegenwart und Zukunft etwas zu sagen hat und stark genug ist, mit in diese neue Zeit übernommen zu werden!


Ich habe Bundesbruder Körner zitiert, weil seine Worte heute so aktuell erscheinen, wie vor siebzig Jahren.
Eine Burschenschaft als Hilfe, notwendige Ergänzung, aber auch als Korrektiv der universitären Ausbildung in der Masse ist unbestritten und unerreicht; 1848 ist das so gewesen, 1951 immer noch und so ist es 2021 mehr denn je. Das müssen wir nicht rechtfertigen; wir wissen um die Werte; leben und weitergeben müssen wir sie!
Erstaunlich auch, wenn man sich vor Augen hält, welche Entwicklung Deutschland und Europa genommen haben, welcher Wandel die Welt bewegt.
Zu Zielen der Urburschenschaft, zur deutschen Einigung und Geschichte muss ich nicht schreiben; wir müssen auch nicht gemeinsam zurückblicken. Wir leben nicht mit Problemen und nicht nach Ideen von vor 200 Jahren. In konsequenter Entwicklung des burschenschaftlichen Zieles der Einigung Deutschlands ist die Einigung Europas heute gedanklich zwingend sowie politisch und wirtschaftlich einzig sinnvoll; sie läuft, wenn auch gefühlt mit holprigen Schritten, erfolgreich.
Was bis heute entstanden ist, konnten sich viele weder 1951 noch 1989 bei Deutschlands Wiedervereinigung und dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa vorstellen. Bundesbruder Körner dagegen hat bereits vor sieben Jahrzehnten weitblickend gesagt: … daß wirtschaftlich und vielleicht auch politisch unser Vaterland Deutschland nur europäisch und weltpolitisch gesehen werden kann.
Für „Deutschtümelei“ haben wir keinen Raum; Isolationismus und Einzelkämpfe sind für ein Land in der Mitte Europas 2021 Irrwege, so wie sie es 1951 gewesen sind. Die Herausforderungen, vor denen die Welt steht, werden nicht in nationalen Grenzen bewältigt werden können.
Das alles gilt zugleich für die Burschenschaft als Teil des Ganzen.
Lassen wir Hannovera „europäisch“ werden!

Kai Schröder (WS 1975/76)

Gänseliesel zur Zeit der Wiedergründung, ca. 1952.


(Dieser hier leicht überarbeitete Artikel wurde in der Bundeszeitung der Burschenschaft Hannovera Göttingen, Jahrgang 111 (Neue Folge), Mai 2021, Nr. 1, Seiten 60-62, veröffentlicht.)








(ks-11/2021)