Richard Witting

Oberbürgermeister, Bankdirektor, Politiker, Bundesbruder

(Überarbeitete Fassung des Artikels aus der Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen, Jahrgang 89 (Neue Folge), Oktober 1999, Nr. 2, S. 32–41)

Erst kürzlich stieß ich auf einen von Arthur Kronthal verfassten Nachruf für unseren Bundesbruder Richard Witting. Dieser knapp 9 Druckseiten umfassende Lebenslauf erschien 1930 im Deutschen Biographischen Jahrbuch, herausgegeben vom Verbande der Deutschen Akademien, Band V (Das Jahr 1923), Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Berlin und Leipzig. Daneben verblassen alle anderen Quellen (z. B. Grünengeschichte von Lampmann, Justizmitteilungsblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat, Handbücher über das Preußische Abgeordnetenhaus), die mir bisher zur Verfügung standen.

Die heute lebenden Mitglieder der Hannovera haben zumindest mehrheitlich aller Wahrscheinlichkeit nach keine rechte Vorstellung über sein Leben und Wirken. Das veranlasst mich, etwas über ihn zu berichten, und zwar neben einem kurzen Lebenslauf zu den in der Überschrift umschriebenen Bereichen.

Lebenslauf

Richard Witting erblickte am 19. Dezember 1856 in Berlin als siebtes von neun Kindern des 1815 in Posen geborenen und dort zunächst ansässigen jüdischen Seidenwarenhändlers Arnold Witkowski und dessen aus Schwerin/Warthe (Kreis Crossen) stammenden Ehefrau Ernestine geb. Krakau das Licht der Welt. 1853 verzog die Familie nach Berlin. Dort besuchte Richard Witkowski erst eine Privatschule, ehe er auf das Französische Gymnasium wechselte. Mit Unterprimareife verließ er die Schule und begann eine kaufmännische Lehre. Zwei Jahre später ging er auf das Gymnasium zurück und legte 1876 die Reifeprüfung ab. Nach dem Abitur konvertierte er zum evangelischen Glauben und nahm – wie später auch seine Eltern, seine Schwester und die meisten seiner Brüder – den Namen Witting an. Sein jüngerer Bruder Maximilian wählte den Familiennamen Harden; jener war zunächst Schauspieler und danach Journalist, gab ab 1892 die Wochenzeitung „Die Zukunft“ heraus und verfasste unter einem Pseudonym wegen des von ihm missbilligten Sturzes von Reichskanzler Bismarck gegen Kaiser Wilhelm II. und dessen Berater Fürst Eulenburg harsche Polemiken, die in den Jahren 1907 – 1909 Skandalprozesse auslösten. Ein anderer jüngerer Bruder, Georg Witkowski, nahm keine Namensänderung vor; er war später Literaturhistoriker und Professor an der Universität Leipzig.

Richard Witting studierte ab 1876 Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen und Berlin. Die Referendarzeit verbrachte er ab 1879 im Bezirk des Kammergerichts, ab 1884 war er drei Jahre Gerichtsassessor, ebenfalls im Bezirk des Kammergerichts. Danach wurde ihm „behufs Übertritt zur Kommunalverwaltung die nachgesuchte Dienstentlassung erteilt“. Nach zwei Jahren als Magistratsassessor bei der Stadt Berlin war er von Juni 1889 bis Juni 1891 als (besoldeter) Stadtrat in Danzig tätig. Von 1891 – 1902 war er Oberbürgermeister von Posen, sodann Direktor der Nationalbank für Deutschland AG in Berlin, 1911 wurde er Vorsitzender deren Aufsichtsrates. Nach Verschmelzung dieser Bank mit der Darmstädter Bank 1922 war er stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender. Richard Witting starb am 22. Dezember 1923 in Berlin.

Oberbürgermeister

Posen, die Hauptstadt der gleichnamigen preußischen Provinz, war beim Amtsantritt von Richard Witting als Bürgermeister und späterer Oberbürgermeister eine verschlafene Kleinstadt und keineswegs vergleichbar mit sonstigen Provinzialhauptstädten, selbst wenn diese wie Posen Festung waren. Ähnlich schlecht schnitt die Provinz Posen im Vergleich mit allen anderen preußischen Provinzen ab, und nicht nur wegen des relativ hohen Anteils an einer polnisch sprechenden Bevölkerung. Seine Vorgänger hatten bereits darauf hingewirkt, aber ihm gelang es, die „Entfestung“ der Stadt durchzusetzen. Richard Wittings unermüdlicher Einsatz führte dazu, innerhalb weniger Jahre aus dem dumpfen Provinznest eine „schmucke, geistig und künstlerisch regsame, lebensdurchflutete Großstadt“ zu machen. Dazu gehörte die Ansiedlung von Industrie, die Schaffung eines Kanalsystems, der Hochwasserschutz durch Regulierung der Warthe, die Errichtung neuer Schulen, die Eingemeindung von Vororten, der Aufbau einer leistungsfähigen Feuerwehr und eine verbesserte Verkehrsanbindung. Einige seiner Pläne (Theaterbau, Volksbibliothek) wurden erst von seinen Nachfolgern verwirklicht.

Posen war lange die einzige preußische Provinz, in der sich weder eine Universität noch eine Technische Hochschule befand. Der Oberpräsident v. Bitter wollte um die Jahrhundertwende eine „Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft“ in der Provinzialhauptstadt errichten. Hiergegen wandte sich Richard Witting, weil er dadurch die Gründung einer Universität in weite Feme gerückt sah. Als seine sachlichen Stellungnahmen gegen das vorgenannte Projekt erfolglos blieben, griff er zu einem für einen damals in Preußen tätigen Beamten ungewöhnlichen Mittel: Er gab der linksgerichteten Presse einen Hinweis, dass nach den Plänen für das Gebäude der „Deutschen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft“ ein separater Eingang vorgesehen sei zu besonderen Räumen, welche ausschließlich der aristokratischen Kasinogesellschaft und deren Veranstaltungen dienen sollten. Die spöttelnden Verse und Karikaturen in Tageszeitungen und Witzblättern führten dazu, dass die Planungen im Sande verliefen.

Als Oberbürgermeister hielt Richard Witting regelmäßig Sprechstunden für die Bevölkerung ab. Auch die polnisch sprechenden Bürger fanden bei ihm Gehör und vertrauten ihm. Zu dem radikal-polnischen Erzbischof und zu etlichen der Polenpartei nahestehenden Adeligen hatte er gute Beziehungen. Bei seinem Ausscheiden aus dem Amt verlieh ihm die Stadt Posen die Ehrenbürgerschaft; eine Straße wurde nach ihm benannt, doch das hatte alles ein Ende, als Polen nach dem Ersten Weltkieg die Stadt übernahm.

Die preußische Regierung versuchte, Richard Witting in ihre Dienste zu nehmen. Ihm wurde 1902 die Stelle eines Oberregierungsrates und baldigen Präsidenten einer Behörde für Ansiedlung (von Deutschen) in den Provinzen Posen und Westpreußen angeboten, aber er lehnte aus Gründen ab, die weiter unten angeführt werden. Anlässlich seines Ausscheidens aus dem Kommunaldienst wurde ihm vom Staat Preußen der Titel „Geheimer Regierungsrat“ verliehen.

Während seiner Zeit als Oberbürgermeister brachte er 1899 – was sein Biograph Kronthal bei einem preußischen Beamten für ungewöhnlich hält, was meiner Kenntnis nach aber nicht außergewöhnlich ist – ein Buch mit dem Titel „Novellen“ im Verlag Freund & Jekel in Berlin heraus, worin die Novellen „Der Regierungsrath“ (S. 1-130) und „Junge Welt“ (S. 131-240) enthalten sind. Für diese Veröffentlichung benutzte Richard Witting das Pseudonym „Richard Gabriel“, eine Zusammenfügung seines Vornamens mit dem Geburtsnamen seiner Frau.

Bankdirektor

Als Direktor der Nationalbank und deren späterer Aufsichtsratsvorsitzender hatte Richard Witting ein völlig neues Betätigungsfeld, in das er sich rasch einarbeitete. Aufgrund seines Ideenreichtums und seines Verhandlungsgeschicks konnte er mannigfache Probleme lösen. Mit der neuen Aufgabe war verbunden, dass er in einer Reihe von Aufsichtsräten großer deutscher Aktiengesellschaften mitentscheiden musste. Da die Nationalbank sich auch außerhalb Deutschlands engagierte, sich z. B. an der Deutschen Orientbank und an der Deutsch-Südamerikanischen Bank beteiligte, war er häufig im Ausland. So erhielt er nicht nur Einblicke in die innerdeutschen wirtschaftlichen Verflechtungen, sondern auch in die Verbindungen der deutschen Industrie und Wirtschaft im internationalen Bereich. Das Ergebnis dieser Eindrücke ist die 1905 erschienene Publikation „Der politische Bankdirektor„. Er wurde nie ein einzig auf Gewinnmaximierung abzielender Bankier, vielmehr neigte er dazu, wirtschaftspolitische Belange in den Vordergrund zu rücken, vor allem auch für das Gebiet der Außenpolitik.

1905 gehörte er zu den Mitbegründern des Hansabundes für Gewerbe, Handel und Industrie. Diese Vereinigung sollte alle Wirtschaftszweige umfassen, um eine einheitliche Interessenorganisation zu haben gegen die staatlich bevorzugte Landwirtschaft. Der Kampfruf des Hansabundes lautete etwa, Deutschland sei längst ein Industriestaat und dürfe deshalb nicht länger wie ein Agrarstaat regiert werden.

Politiker

Richard Witting gehörte wie die Mehrzahl unserer Bundesbrüder, die bis 1918 ein Mandat im Deutschen Reichstag und/oder im Preußischen Abgeordnetenhaus hatten (Oberlandesgerichtspräsident Johannes Struckmann, Senatspräsident Franz Hagens, Stadtrat Maximilian Weber, Oberbürgermeister Gustav Struckmann und Oberbürgermeister Dietrich Roggemann), der Nationalliberalen Partei an, während Unterstaatssekretär Eduard v. Marcard (Deutsche Reichspartei). Universitätsprofessor Ludwig Karl Aegidi (Freikonservative Partei) und Landgerichtsdirektor Felix Boehmer (Konservative Partei) anderen politischen Strömungen zuneigten. Er wurde bei einer Ersatzwahl im November 1907 im Wahlkreis 197 Lehe- Geestemünde bis zum Ende der Wahlperiode im Mai 1908 in das Preußische Abgeordnetenhaus gewählt, hat sich aber weder vorher noch nachher um einen Parlamentssitz bemüht. Als Oberbürgermeister von Posen war er von Amts wegen Mitglied des preußischen Herrenhauses und hatte entsprechende Kontakte zu Politkern sowie hohen Verwaltungsbeamten; später lernte er als Bankdirektor viele Entscheidungsträger im Bereich von Wirtschaft und Handel auch außerhalb von Deutschland persönlich kennen. In der Nationalliberalen Partei, deren Vorstand er zeitweilig angehörte, stand er zunächst als überzeugter Monarchist auf dem rechten Flügel. Die deutsche bzw. preußische Ostmarkpolitik (hat nichts mit Österreich zu tun, sondern bezog sich damals auf die Ansiedlung von Deutschen in den überwiegend von Polen besiedelten Teilen der Provinzen Posen und Westpreußen) hielt er nicht für grundlegend verkehrt, aber aus seinen Erfahrungen als Oberbürgermeister der Stadt Posen heraus meinte er, es müsste etwas anderes erfolgen, um die nichtdeutsche Bevölkerung an Deutschland zu binden. Zwar galt er zeitweilig als Berater von Reichskanzler v. Bülow in der Polenfrage und konnte 1902 persönlich kurz vor seiner Amtsaufgabe als Oberbürgermeister von Posen Kaiser Wilhelm II. seine Ansicht über die „Polenpolitik“ darlegen, aber durchsetzen konnte er sich nicht mit seiner Meinung, dass die komplizierte und schwerfällige preußische Verwaltung nur zu wenig erfolgversprechenden Maßregeln fähig sei, während sich Erfolge im Sinne einer Integration nur auf eine andere Weise einstellen würden. So lehnte er es konsequenterweise ab, Präsident der in Aussicht genommenen Ansiedlungsbehörde zu werden.

Entsprechend den damaligen Gepflogenheiten versuchte er, seine politischen  Überzeugungen durch Denkschriften (z. T. auch unter Pseudonym) oder in Gesprächen mit einflussreichen Persönlichkeiten von Politik Verwaltung und Wirtschaft zur Geltung zu bringen. Im Übrigen trugen seine elegante, gepflegte Erscheinung, seine weltmännischen Manieren, seine bestechende Liebenswürdigkeit, seine Großzügigkeit und seine Hilfsbereitschaft dazu bei, dass man seinen fesselnden, inhaltsschweren Ausführungen gern zuhörte.

Im Laufe der Jahre wandelten sich seine politischen Auffassungen. So unterstütze er Fürst Lichnowsky (den er aus einer Zeit in Posen gut kannte), den deutschen Botschafter von 1912 – 1914 in London, bei dessen Bemühungen um eine Annäherung zwischen Deutschland und England, selbst wenn diese unter Lockerungen der Beziehungen Deutschlands zu Österreich-Ungarn erfolgen musste. Aufgrund der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der deutschen und der französischen Industrie hielt er auch einen Ausgleich zwischen dem Deutschen Reich und seinem „Erbfeind“ Frankreich für dringend erforderlich. Insbesondere nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger am 28. Juni 1914 in Sarajewo sprach er sich eindeutig gegen die der Donaumonarchie zugesicherten „Nibelungentreue“ aus, denn die dortige Außenpolitik hielt er nicht ohne Grund für so abenteuerlich, dass Deutschland in einen Weltkrieg hineingezogen werden könnte. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, hatte er keinerlei Vertrauen mehr zu einer Regierung, die „den Krieg nicht zu verhindern, ihn nicht zu führen und nicht zu beenden verstünde“. Für völlig falsch hielt er die deutschen Maßnahmen vor und bei Kriegsbeginn, nämlich die unnötigen Ultimaten an Frankreich und Russland sowie die daraufhin erfolgten Kriegserklärungen, ebenso die Missachtung der international garantierten Neutralität von Belgien, weil sich hierdurch das Deutsche Reich selbst ins Unrecht gesetzt habe. Auch gegen die von der Vaterlandspartei erhobenen Forderungen hinsichtlich einer Saturierung Deutschlands nach gewonnenem Krieg (u. a. Einverleibung von Belgien und Teilen Nordfrankreichs) – als eines „Versailler“ Vertrages mit umgekehrten Vorzeichen – trat er mutig und lautstark an. Er geriet nach und nach in die politisch linke Ecke und schloss sich dem 1914 gegründeten „Bund Neues Vaterland“ an, einer pazifistischen Aktionsgemeinschaft von Intellektuellen, der 1916 vom „Oberbefehlshaber in den Marken“ jede weitere Tätigkeit während des Krieges verboten wurde. Auch pflegte er Beziehungen zur Sozialdemokratie (deren wirtschaftspolitische Vorstellungen er allerdings nach wie vor für groben Unsinn hielt), soweit deren Vertreter für einen baldigen Verständigungsfrieden mit der Entente eintraten. Darüber hinaus erkannte er, dass sich nach einem Friedensschluss – gleichwie dieser auch aussah – die innenpolitischen Gegebenheiten ändern müssten. Deshalb arbeitete er noch während des Krieges zusammen mit Hugo Preuß, dem Vater der Weimarer Reichsverfassung, an einem Entwurf für eine Verfassungsänderung.

Das alles waren natürlich Auffassungen und Handlungen, die der von Kaiser Wilhelm II. zu Kriegsbeginn verkündeten Parole vom Burgfrieden nicht entsprachen und Richard Witting vielfache Kritik einbrachten. Nach Kriegsende versuchte er, mit französischen Politikern und Wirtschaftsführern ins Gespräch zu kommen, um zum gemeinsamen Nutzen der deutschen und französischen Industrie eine Abmilderung des Versailler Diktats zu erreichen. So nahm er 1922 in Berlin an einer Aussprache mit Paul Reynand teil, einem französischen Parlamentarier und Vertrauten des damaligen Präsidenten der Republik Frankreich, der später mehrfach Ministerämter bekleidete und 1940 beim Einmarsch deutscher Truppen in Frankreich Ministerpräsident war. Alle Versuche, zu einer baldigen Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland zu kommen, fruchteten damals jedoch weder diesseits noch jenseits des Rheins.

Richard Witting gehörte zu den 60 Persönlichkeiten, die kurz nach dem Waffenstillstand 1918 einen Aufruf „zur Gründung einer großen demokratischen Partei für das einige Reich“ unterzeichneten. Dieser Aufruf wurde am 16. November 1918 im „Berliner Tageblatt“ veröffentlicht. Zwar kam es sogleich zu Verhandlungen zwecks Bildung einer Partei unter Einbeziehung aller liberalen Richtungen, doch zerschlugen sich diese schon wenige Tage später. Am 20. November 1918 gründete sich die Deutsche Demokratische Partei, der Richard Witting beitrat. Eine Zeitlang war er Präsident des Demokratischen Klubs in Berlin, lehnte es aber ab, ein politisches Amt zu übernehmen.
Wenn es darum ging, nach der Jahrhundertwende einen Ministerposten oder eine andere hohe Position in der Regierung zu besetzen, fiel oft der Name Richard Witting, aber zu einer Ernennung kam es nicht. Daraus haben Kritiker geschlossen, ein nicht erfüllter Ehrgeiz habe ihn dazu getrieben, immer stärker auf Distanz zum politischen Establishment zu gehen. Es mag sein, dass auch persönliche Schicksalsschläge ausschlaggebend waren. Anfang November 1914 fiel sein Sohn bei Hollebeke südlich von Ypern in Belgien. Seine Tochter, die bereits als junge Frau starb, war mit dem Kapitänleutnant Hans Paasche verheiratet, der nach dem Ersten Weltkrieg ins kommunistisch-pazifistische Fahrwasser abdriftete. 1920 wurde die Reichswehr beauftragt, Paasches Gut Waldfrieden in der Gemeinde Wiesenthal (Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen) nach Waffen, Munition und kommunistischem Propagandamaterial zu durchsuchen, wobei der Gutsbesitzer, „nachdem er völlig unbekleidet dem Bade im Gutssee entstieg, angeblich infolge eines Missverständnisses niedergeschossen“ wurde. Obwohl er seinen Schwiegersohn für einen utopischen Schwärmer hielt, gaben die Ereignisse um dessen Tod wiederum Anlass zu kritischen Anmerkungen über Richard Witting.

Seine scharfsinnigen politischen Analysen und die daraus resultierenden zutreffenden Schlussfolgerungen fanden zu seiner Zeit leider nicht ausreichend Gehör. In der Biographie von Kronthal wird 1930 sein Wirken gewürdigt, aber schon drei Jahre später dürfte alles wieder verdrängt worden sein.

Bundesbruder

Kronthal schreibt, dass Richard Witting im Sommersemester 1876 bei den „Grünen Hannoveranern“ in Göttingen aktiv wurde. Über seine Aktivenzeit und die ersten Jahre als Alter Herr liegen mir keine Erkenntnisse vor. Seine Verdienste um die Hannovera erwarb er sich insbesondere nach Wiedereröffnung unserer Aktivitas 1906. Mit einigen anderen Alten Herren hatte er erkannt, dass trotz tatkräftiger personeller Unterstützung durch Germania Jena und Frankonia Heidelberg die Hannovera in Göttingen auf Dauer nur bestehen konnte, wenn man baldmöglichst ein Verbindungshaus erwarb. Für den 8. April 1908 rief Richard Witting zusammen mit Karl Riekes, dem Kassenwart des Altherrenverbandes, und Iwan Lorentzen die Alten Herren zu einer Versammlung zwecks Gründung eines Hausbauvereins nach Berlin ein (vgl. dazu den Artikel von Bbr. Werner Thies, Bundeszeitung der Grünen Hannoveraner zu Göttingen,  Jahrgang 89 (Neue Folge), April 1999, Nr. 1,  S. 22 ff.). Witting und Riekes hatten eine Satzung für den „Hausbauverein der Grünen Hannoveraner, eingetragener Verein zu Göttingen“ erarbeitet, die nach dem Stiftungsfest 1908 Grundlage für die alsbald erfolgende Eintragung des Vereins war. Richard Witting wurde in den Vorstand des Vereins gewählt.

Nach dem Kauf des Hausgrundstücks Herzberger Landstraße 9 stand es um die Finanzen des Altherrenverbandes sowie des Hausbauvereins nicht gut, denn das erworbene Haus musste noch umgebaut und möbliert werden. Die gezeichneten Stammanteile, eine Hypothek auf das Grundstück und ein kleineres Darlehen der Altherrenkasse (insgesamt etwas mehr als 50.000 Mark) reichten bei weitern nicht aus, die anfallenden Verbindlichkeiten zu erfüllen. Alter Herr Riekes besorgte in Seesen deshalb eine Bankschuld von 10.000 Mark, war aber der Meinung, dieser „Klotz“ müsste alsbald (wegen der hohen Zinsen) beseitigt werden. Richard Witting erklärte sich bereit, diese Summe zu stiften (und das wäre ihm sicher nicht schwer gefallen), aber Karl Riekes lehnte dieses hochherzige Angebot auf der Bundesversammlung mit der Begründung ab, man dürfte nicht zu sehr in der Dankesschuld eines einzelnen Alten Herren stehen. So war man noch jahrelang auf Umlagen und die Zeichnung weiterer Bausteine beim Hausbauverein angewiesen.

Am 24. Oktober 1908 war es dann so weit: Richard Witting leitete eine Versammlung des Hausbauereins in Göttingen und übergab anschließend das Haus der Aktivitas. Dabei schenkte er ihr einen kostbaren silbernen Pokal mit der Bestimmung, nur der jeweilige Sprecher solle ihn bei feierlichen Gegebenheiten benutzen. Diese Dotation – so bemerkt Lampmann – hatte man umso weniger erwartet, als Richerd Witting ein Jahr zuvor bereits ein neues seidenes Banner gestiftet und einen hohen Betrag bei der Gründung des Hausbauvereins gezeichnet hatte.

Bei Wiedereröffnung der Aktivitas nach dem 1. Weltkrieg stand diese – wie eigentlich immer – vor finanziellen Problemen. Sie schrieb im Herbst 1919 sämtliche Alte Herren an und führte u. a. aus, allein für 42 Zentner Brennholz habe man 350 Mark aufbringen müssen. Richard Witting rügte das Vorgehen der Aktiven. denn er meinte, diese hätten „unter Einhaltung des Instanzenweges“ zunächst den Altherrenausschuss beteiligen müssen. Dennoch überwies er 350 Mark an die Aktivitas. Diese entschuldigte sich für den Formfehler; Alter Herr Witting nahm die Entschuldigung an, weil er der Auffassung war, bei „unserer lieben alten Hannovera herrsche ein tüchtiger und guter Geist“. Als die Aktiven ein Jahr später die Gelegenheit hatten, für 2.000 Mark einen größeren Posten Fechtklingen preiswert zu kaufen, stiftete er 1.000 Mark.

Richard Witting trat aber nicht nur als spendabler Alter Herr in Erscheinung, sondern auch als Redner bei burschenschaftlichen Veranstaltungen. Auf dem Reichskommers der Deutschen Burschenschaft 1911 in Berlin (so Lampmann, S. 161; gemeint ist der Reichsgründungkommers) hielt er die Festansprache und forderte die Burschenschaft auf, an einem sittlichen und politischen Läuterungsprozess mitzuwirken. In Deutschland würde sich eine Zerklüftung zwischen den sozialen Schichten viel stärker als bei anderen Kulturnationen bemerkbar machen. Da müsste die Deutsche Burschenschaft aufgrund ihrer historischen Wurzeln und ihrer Erziehungsideale ansetzen. Sie sollte tätig werden bei der Zurückgewinnung der Massen für den Staatsgedanken durch eindrucksvolle Zugeständnisse an die ideellen Kräfte in der Massenbewegung. Die Burschenschaft müsste Männer erziehen, die diese Bezeichnung wirklich verdienten, die nicht von der Wissenschaft, sondern für sie lebten, die Royalisten seien, aber keine Byzantiner, denn die Intelligenz müsste ins Volk gehen und dazu gehörten nicht nur Akademiker, Handwerker und Bauern, sondern auch Arbeiter.

Auf dem 65. Stiftungsfest der Hannovera im Juli 1913 ergriff Richard Witting ebenfalls das Wort zu Ehren der Deutschen Burschenschaft. Vor ihm brachte der älteste Teilnehmer der Hannovera, der Augenarzt Dr. med. Wilhelm Wagner (WS 1856/57) einen Toast auf die Hannovera aus. Anschließend hielt Dr. jur. h. c. Gustav Struckmann (WS 1858/59), bis 1909 Oberbürgermeister von Hildesheim, eine Rede auf das Deutsche Reich, das er als gesund und fest einstufte, weil – wie man mit Stolz feststellen könne – an dessen Spitze ein Kaiser stehe, der mit innigster Vaterlandsliebe und treuem Pflichtgefühl alles schon recht mache. Richard Wittings Ausführungen zeigten deutlich andere, eher besorgte Akzente. Genau wie im Wirtschaftsleben könnte in der Politik auf einen Wellenberg ein Wellental folgen. Gerade deshalb müsste sich insbesondere die Deutsche Burschenschaft anstrengen, um Anregungen zu geben oder sogar bahnbrechend hervorzutreten bei dem Versuch, die Nation wieder zurückzuführen auf die unvergänglichen Ideale aus vergangener Zeit, die hart und eisern war. Die Zukunft Deutschlands könnte nur durch eine starke, aktive und  entschlossene Politik gesichert werden – und damit hatte Richard Witting wohl mehr die Politik von Reichskanzler Bismarck im Auge als die seiner Nachfolger.

Alter Herr Adolf Senff (WS 1875/76) stellte in einem Nachruf für Richard Witting in der Grünenzeitung 1923 heraus: „Jedenfalls hätte die Stärke seines Patriotismus und seines Rückgrats seine Lippen vor Königsohren nicht verschlossen … „, und führte weiter aus, Deutschland würde viel besser dastehen, wenn man seine Besorgnis um das Vaterland nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch berücksichtigt hätte.



Henning Tegtmeyer (WS 1961/62)





(ks-9/2019)